Lust auf Kleinstadt?

C’est la mort Bevor Sie nach Cochem, Krefeld oder Husum umziehen, sollten Sie sich mit den ortsansässigen Räubern und Gendarmen vertraut machen, dazu rät unsere Krimi-Kolumnistin Ute Cohen
Ausgabe 45/2021
Dramen spielen sich am Boule-Platz ab
Dramen spielen sich am Boule-Platz ab

Foto: imago/Bildbyran

Rettung oder Untergang? Die Kleinstadt ruft widersprüchliche Gefühle hervor. Was ist es, das uns lockt und abstößt zugleich? Die Kleinstadt gilt als Bollwerk gegen rapiden gesellschaftlichen Wandel. Der Posaunenchor bläst das Loblied der Langsamkeit und schert sich einen feuchten Dreck um den Moloch Stadt. Den Dörflern tätschelt der Kleinstädter liebevoll das Köpfchen. Dieser zwittrige Status bringt ihm nicht selten Häme und den Ruf des unterbelichteten Philisters ein. Erst in jüngster Zeit entwickelt sich ein versöhnlicher Blick auf die Kleinstadt: Ist sie vielleicht das verlorene Paradies mit Minimalurbanität und maximaler Überschaubarkeit? Bevor man sich nun aber nach Cochem, Husum oder Berchtesgaden zurückzieht, sollte man sich mit ortsansässigen Räubern und Gendarmen vertraut machen. Jeder Ort ist schließlich nur so gut wie seine Verbrechen.

In Martin Beckers Kleinstadtfarben trägt die Hauptfigur die Herkunft aus kleinen Verhältnissen am Leibe. So sehr man auch in die Ferne strebt, die Herkunft lässt sich nicht wie eine Schlangenhaut abstreifen. Im besten Fall legt man sich ein dickes Fell zu, passt sich der Tonalität der neuen Welt an. Kommissar Peter Pinscher ist ein Fremdkörper in allen Welten. Mit Akribie widmet er sich dem Tod, hat in puncto Impulskontrolle jedoch ein paar Lektionen versäumt, was zu einer Versetzung in die Heimatstadt führt. Letztlich ergeht es ihm wie dem Haustier aus Kinderzeiten: „Seit über zwei Jahrzehnten denkt er über die rein theoretische Möglichkeit nach, dass sein Wellensittich namens Bubi Pinscher überlebt haben, dem Tod ein Schnippchen geschlagen und neu angefangen haben könnte in der Wildnis der Kleinstadt.“

Unbefleckt ist aber nun selten ein Neubeginn: Die Mutter vegetiert im Altersheim vor sich hin. Den adipösen Pinscher beschleichen auch deshalb ungute Vorstellungen seiner eigenen Zukunft. Angesichts seiner Lebensweise, maßlos rauchen, trinken, essen, was mitunter selbst der Leserin etwas zu kaputt gerät, ist seine Sorge ganz und gar nicht unberechtigt. Dem unsentimentalen und schicksalhaften Denken von Krankheit und Tod, wie er es aus seinem Milieu kennt, versucht er durch eine ganz eigene Strategie zu entgehen: „Feuer mit Feuer bekämpfen“. Verlustig geht Pinscher allerdings damit auch der Lebensfreude. Friedrich Rückerts „Ich bin der Welt abhandenkommen“ ist sein Daseinsmotto.

Als Glotzen-Elsbeth ausgerechnet in seinem Elternhaus stirbt, sieht sich der Kommissar mit den Dämonen der Vergangenheit konfrontiert. Dazu gehört nicht nur der melancholische Schauer vergilbter Fotoalben, sondern auch das Relikt einer Hoffnung auf bessere Zeiten: die Schrankwand als Aufstiegssymbol und Versprechen.

Das Blut kommt erst wieder in Wallung, als sich die Liebe in die Stadt einschleicht. Denn begleitet wird dieser „sentimental journey“ von Pinschers Jugendliebe Anna Leid. Die vermeintliche Psychotherapeutin kuriert Pinscher zwar von seiner panischen Nachtangst, erweist sich jedoch als Hochstaplerin. Der Kommissar, die Therapeutin, die kranke Mutter – allen gemeinsam ist die Flucht vor dem „zu engen Käfig“. Diese Welt ist erbaut auf einem „Grund aus purer Schäbigkeit“, „behaust von Verrückten und Verlorenen“.

Eskapismus in Scheinwelten, Genuß- und Schmerzmittel erweisen sich als lebensrettend. Kleinstadtfarben ist ein poetisches Buch, das den proletarischen Schmerz der versiegenden Hoffnung in einem Format einfängt, das den Plot nebensächlich werden lässt.

Heller, strahlender, fröhlicher sieht es aus in Ardinoschou, einer südfranzösischen Kleinstadt, die mit der Sonne von Saint-Tropez und dem berühmtesten Flic um die Wette eifert, denn der Polizist Jérôme Laskar erinnert sehr an Louis de Funès. Während der legendäre Gendarm jedoch legendär wütet und tobt, bricht Jérôme betrunken an der Standarte der Gemeinde zusammen. Die Marseillaise bildet den Soundtrack dieses urkomischen Settings. Jérômes Überlebenstrick par excellence ist die gekonnte Ausflucht: Die Fahne in die Erde gerammt und selbst im Boden versunken? „Das ist bei Revolutionen so üblich.“. Dass dieser Ort ganz eigene Regeln aufstellt, gilt für fast alle Lebensbereiche, ausgenommen das Boule-Spiel. Und wenn es dann mitunter Streit über den Abstand der Wurfkugel zum „Schweinchen“ gibt, beruhigt Jérôme als behördliche Aufsichtsperson die Gemüter. Sich selbst besänftigt er mit Anisschnaps, denn: „Ricard ist glatt an den Zähnen und fließt wie Gottes Segen.“ Santé!

Dramen spielen sich hier am Boule-Platz ab. Das spurlose Verschwinden der begehrten und geliebten Eisenkugeln versetzt den Trupp der Boule-Aficionados in Aufruhr. Schließlich spielen sie nicht um Geld, sondern um die Ehre. Auf der Suche nach den vermissten Spielkugeln deckt Jérôme en passant Liebeleien auf und verstrickt sich selbst fast in ein Techtelmechtel. Die beim Pétanque so wichtige Auge-Hand-Koordination wird ihm fast zum Verhängnis, als er Lucia Morelle begegnet. Ja, da duften Frauen nach Genever mit Zitrone, haben die „Flora der Provence verinnerlicht“ und fragen „mit einer Stimme aus Sand – aus Sand vom Grunde des Verdon, um genau zu sein“. Durch diese olfaktorischen und botanischen Irrungen und Wirrungen folgt man dem Autor Benito Wogatzki gern, zumal er zielgenaue anarchische Treffer landet: „Eines war in Ardinoschou nicht verboten: man durfte die Wahrheit herausfinden und für sich behalten.“

Jenseits des Atlantiks geht es weniger bunt und luftig zu, es bleibt verwirrend. In James Sallis’ Sarah Jane ist das Normalität: „Alle Leben, die ich kenne, sind komplett chaotisch.“ Willkommen im Club, möchte man der Protagonistin zurufen, deren Kosename „Pretty“ die typischen Elendsstationen so manch anderer weiblicher Biografien nicht verhindern konnte. Der 1944 geborene Sallis, der mit seiner Reihe um den Privatdetektiv Lew Griffin oder mit dem Roman Driver, der mit Ryan Gosling verfilmt wurde, bekannt geworden ist, siedelt seine Hauptfigur in einer Kleinstadt namens Farr an zwischen „little boxes on the hill side, little boxes made of ticky tacky“, wie sie Randy Newman besingt, mit dem Unterschied, dass die Häuser wie das Leben ins Rutschen geraten und die Bewohner im Trailerpark landen. Sarah Jane landet nach einer Kleinkriminellen-Vergangenheit, diversen Jobs und zwangsweiser Verpflichtung als Soldatin im Irakkrieg als Cop auf dem Polizeirevier. Ihr Lebensweg ist eine eigentümlich amerikanische Success-Story, die zuweilen mit philosophischen Einsprengseln zu punkten weiß, Sarah Jane ist kein klassischer Thriller. Auch kulinarisch ist das Buch gewöhnungsbedürftig: „Leben werden selten als Glibber in den Ofen geschoben und kommen schön goldbraun wieder heraus.“ In Kleinstädten aber, sei’s in Frankreich oder Bayern, kommt man diesbezüglich ganz gewiss auf seine Kosten, und auf Mord und Totschlag braucht man dabei auch nicht zu verzichten.

Kleinstadtfarben Martin Becker Penguin 2021, 288 S., 20 €

Unter der Sonne von Saint-Tropez Benito Wogatzki Faber & Faber 2021, 128 S., 20 €

Sarah Jane James Sallis Kathrin Bielfeldt, Jürgen Bürger (Übers.), Liebeskind 2021, 224 S., 20 €

Dr. Ute Cohen, Jahrgang 1966, wuchs in der fränkischen Provinz auf. Die Journalistin und Schriftstellerin lebt mit ihrer Familie in Berlin. Ihr Romandebüt Satans Spielfeld (2017) erscheint in zweiter Auflage im Septime Verlag. Poor Dogs (Septime 2020) heißt ihr zweiter Roman

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