Magier des Realismus

Linke Superhelden Jeremy Corbyn hatte eigentlich keine Chance und nutzte sie. Die Labour-Basis ist begeistert, der Rest des Landes weniger
Ausgabe 17/2016
Jeremy Corbyn: „Ich führe ein ganz normales Leben“
Jeremy Corbyn: „Ich führe ein ganz normales Leben“

Illustration: der Freitag

Ein so unvorhersehbares Ereignis wie die Wahl Jeremy Corbyns zum Vorsitzenden der Labour-Partei hat es in der Geschichte der modernen britischen Politik kaum je gegeben. Nach der Niederlage gegen David Camerons Tories bei den Parlamentswahlen im Mai 2015, die verheerender ausfiel, als alle Umfragen es befürchten ließen, trat der gemäßigte, unauffällige Labour-Chef Ed Miliband zurück, und sogleich begann unter den ehrgeizigeren Abgeordneten der Partei das Gerangel um seinen Posten. Jeremy Corbyn, ein radfahrender Abstinenzler und Vegetarier, jenseits seines Wahlkreises Islington North in London so gut wie unbekannt, zählte nicht zu den Wettstreitern.

Er hatte nicht nur kein Interesse am Parteivorsitz: In seinen 32 Jahren als Parlamentarier hatte er nie Ambitionen auf ein hohes Amt an den Tag gelegt, weder in der Regierung noch in der Opposition. Als New Labour regierte, also zwischen 1997 und 2010, stimmte er in unerschütterlicher sozialistischer Prinzipientreue 428 Mal gegen seine eigene Parteiführung – so oft wie kein anderer Abgeordneter.

Bis er 1983 erstmals ins Parlament einzog, hatte sich Corbyns Berufslaufbahn sehr unspektakulär angelassen. Er war ein schlechter Schüler gewesen, sein Studium hatte er abgebrochen und danach für Gewerkschaften gearbeitet, ehe er in den 70ern für Labour in den Rat seines Stadtbezirks gewählt wurde. Noch vor einem Jahr waren ein paar linke Aktivisten sowie die Bewohner von Islington die Einzigen, denen Corbyn wirklich ein Begriff war. In seinem Wahlkreis kannten ihn die meisten als Jeremy und schätzten ihn als Helfer in den Wirrnissen des modernen Londoner Lebens, der bei keiner Veranstaltung in seinem Bezirk fehlte, egal wie klein und fade sie war.

Im Unterhaus setzte sich Corbyn vor allem für Themen ein, hinter denen zu Beginn seiner Karriere noch ein starker, gut organisierter Teil der britischen Linken stand: Menschenrechte, Pazifismus und atomare Abrüstung sowie für starke Gewerkschaften und einen robusten Sozialstaat. In diesen vergangenen drei Jahrzehnten führte zuerst Margaret Thatcher ihren zähen und siegreichen Krieg gegen die Gewerkschaften, später stellte Tony Blairs „Modernisierung“ die Politik von Labour auf den Kopf. Die Privatisierungswut erfasste das Land, und mit dem Niedergang des produzierenden Gewerbes schwand auch die traditionelle Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse. Großbritannien rückte nach rechts, doch Corbyn blieb, wo er war.

Ein krasser Außenseiter

2015 war die britische Linke politisch so gut wie tot. Selbst innerhalb der Labour-Partei verblieb sie nur als Splittergruppe, genannt The Socialist Campaign Group; zu dieser Handvoll Abgeordneten zählte Corbyn. Die Socialist Campaign Group hatte die Angewohnheit, immer, wenn ein Führungsposten neu zu besetzen war, einen Kandidaten aufzustellen: um ihre Parteifreunde daran zu erinnern, dass es sie noch gab, und um den Linken draußen im Land deutlich zu machen, dass man auch bei Post-Blair-Labour noch als „Sozialist von innen“ kämpfen könne.

Zu den vielen Überraschungen an Corbyns Sieg bei der Wahl zum Parteichef zählt, dass nicht nur keiner mit ihm gerechnet hatte, sondern er selbst eigentlich gar nicht antreten wollte. Doch im kleinen Kreis seiner Abgeordnetengruppe war er eben gerade „an der Reihe“; es gab keine sinnvolle Alternative, und so warf er zögerlich seinen Hut in den Ring. Bei den Buchmachern war er krasser Außenseiter, 1:100 standen seine Chancen im Wettstreit gegen drei andere Kandidaten mit vertraut moderaten Positionen und großer politischer Erfahrung – jedoch, wie sich zeigte, ohne die Kraft einer Botschaft, einer Vision oder eines Charismas, das die Öffentlichkeit hätte begeistern können.

Es folgte ein denkwürdiger Kampagnensommer. Der widerwillige Kandidat wurde vom Hinterbänkler zum Massenphänomen. Eine Änderung der internen Regeln bei Labour erlaubte es, sich für drei Pfund als Unterstützer registrieren zu lassen und bei der Wahl zum Parteichef mitzustimmen. Mehr als 80.000 taten das, hinzu kamen über 180.000 vollwertige Parteieintritte allein 2015. Viele der Neumitglieder waren junge Leute, die an die Zeiten vor Tony Blair gar keine eigenen Erinnerungen hatten. Entnervt davon, dass britische Politiker seit Jahren bloß vorformulierte Statements wiederkäuten, anstatt eigene Gedanken zu äußern, empfanden sie Corbyn als unverbraucht und authentisch und strömten zu Tausenden zu seinen Auftritten. Der Kandidat bot „Klartext“ und „Haltung“ als Kontrastprogramm zu einer Politik, die nur noch von ungewählten PR-Leuten gelenkt schien, und zur grassierenden Korruption im britischen Parlament.

Seit 2009 riss die Reihe der Skandale um Abgeordnete nicht ab, die falsche Spesen in Höhe von Hunderttausenden Pfund deklariert hatten. Corbyn dagegen wies die niedrigsten Spesenrechnungen aller britischen Parlamentarier vor. Er nennt sich selbst „sparsam“ und sagt: „Ich gebe nicht viel Geld aus. Ich führe ein ganz normales Leben, ich fahre Fahrrad und habe kein Auto.“

Ein großer Redner ist er nicht, doch sein geradliniger sozialistischer Populismus hat ihm viele Anhänger beschert, gerade weil er sich klar gegen die Binsenweisheiten der letzten Jahrzehnte stellt. Einige der umstrittensten Entscheidungen aus Blairs Amtszeit möchte er rückgängig machen, vor allem die Privatisierung der Bahnen und der Stromversorger. Auch kommt es ihm nun zugute, dass er, anders als Blair und seine Leute, die britischen Interventionen in Afghanistan und im Irak stets vehement abgelehnt hat.

Im Lauf des Sommers zog Corbyn in den Umfragen weit an seinen Rivalen vorbei. Entgeisterte Medien und ein zunehmend panisches Labour-Establishment, darunter Tony Blair selbst, flehten die Parteibasis an, sich zu besinnen. In einem offenen Brief lamentierte Blair einen Monat vor der Wahl des neuen Parteivorsitzenden, mit Corbyn an der Spitze würde sich Labour über eine ganze Generation in die Bedeutungslosigkeit verabschieden: „Die Partei läuft mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen über den Rand der Klippe … Jeremy Corbyn als Vorsitzender würde einen furchtbaren Rückschlag bedeuten, vielleicht die Auslöschung.“

Die üblichen Spielchen

Es half alles nichts: Der Verfemte gewann die Wahl mit 59 Prozent der abgegebenen Stimmen. Es ist das beste Ergebnis in der Parteigeschichte, auch Blair selbst hatte 1994 nur 57 Prozent geholt. Und noch jetzt, acht Monate danach, scheinen viele Corbyns Triumph kaum fassen zu können; ein altgedienter Weggefährte nannte ihn unlängst „ein Stück magischen Realismus“.

Allerdings erwies sich der Wahlsieg als der leichtere Teil. Corbyn übernahm den Vorsitz einer Partei, die ihn weithin als Fossil aus den 80ern betrachtet und überzeugt ist, unter seiner Führung sei ein Fiasko bei den nächsten Parlamentswahlen unausweichlich. Die Presse und die Tories überschütten ihn mit Hohn; eine Serie genüsslich aufgebauschter Skandale durchzog seine ersten Monate im Amt und hatte vor allem damit zu tun, dass er sich weigerte, die Spielchen der etablierten Politik mitzuspielen – in einem Land, das großen Wert auf öffentliche Rituale legt. Der überzeugte Republikaner wurde dafür gegeißelt, dass er bei einer Gedenkveranstaltung für die britischen Kriegstoten nicht God Save the Queen mitsang und dass er sich bei einem anderen Anlass nicht tief genug verneigte. Und nicht einmal die eigene Parteimaschinerie schien er im Griff zu haben: Bei seinem Amtsantritt im September weigerte sich das Labour-Pressebüro zunächst, seine Erklärungen zu veröffentlichen.

Außerhalb Londons halten viele Corbyn und seine Anhänger für abgehobene Großstädter. So lästerte der Labour-Grande Dave Watts im Januar: „Mein Rat an die Parteiführung lautet, sie sollte weniger auf die London-zentrierte, stramm linke Politkaste hören, die in ihren millionenteuren Anwesen ihre Croissants frühstückt und dabei versucht, eine sozialistische Revolution auszuhecken.“ Zur gleichen Zeit tönte der Blair-nahe Abgeordnete Michael Dugher, den Corbyn wegen wiederholter Angriffe gegen seine Politik gerade aus seinem Schattenkabinett geworfen hatte, er finde es „großartig, weit weg von Islington zu sein, kein Croissant, Brioche oder Pain au chocolat in Sicht“.

Diese Obsession mit französischem Backwerk als vermeintlichem Kennzeichen einer privilegierten Boheme ist symptomatisch für den anhaltenden Kulturkampf in der Labour-Partei sowie in ganz Großbritannien. Die soziale Ungleichheit ist haarsträubend, in der Hauptstadt wie in der Provinz. Doch nirgends herrscht Einigkeit, wie man dagegen vorgehen soll.

Es wird über Putsch geflüstert

Corbyn und seinem potenziellen Finanzminister John McDonnell, ebenfalls ein Sozialist vom alten Schlag, wird immer wieder Inkompetenz vorgeworfen: Sie hätten der harten Linie der Regierung Cameron nichts Substanzielles entgegenzusetzen, und die Leidtragenden seien gerade die Armen und Ausgegrenzten, zu deren Schutz sie antreten wollten. Zweifellos schadet den beiden ihr Mangel an politischer Fronterfahrung. Jahrzehntelang haben sie immer gesagt, was sie dachten, ohne strategische oder „realpolitische“ Rücksichten. Für den geschmeidigen Polit-Apparat der Torys sind sie damit ebenso leichte Zielscheiben wie für eine Presse, die erwartet, dass Politiker sich an die Spielregeln halten. Der Streit um die bis zu 31 Milliarden Pfund teure Erneuerung der britischen Atom-U-Bootflotte, die Corbyn seit jeher rigoros ablehnt, ist nur einer von etlichen Konflikten, bei denen er den Großteil seiner eigenen Fraktion gegen sich hat. Unüberhörbar wird von einem Putsch geflüstert; rechtzeitig vor den Parlamentswahlen von 2020 müsse ein präsentablerer Parteichef ins Amt.

Doch so isoliert Corbyn unter den Labour-Abgeordneten dastehen mag: Ihn zu stürzen wird nicht leicht sein, denn die Basis stützt ihn, er hat viele insbesondere junge Anhänger. Labour ist heute doppelt gespalten: nicht nur zwischen ideologischen Lagern innerhalb der Partei, sondern auch zwischen der Führung und der Basis (den „Corbynistas“) auf der einen und der großen Mehrheit der Parlamentarier und alteingesessenen Funktionäre auf der anderen Seite.

Eine Chance, diese Kluft zu schließen, könnte nur vom eigentlichen politischen Gegner ausgehen. Ein Zerfall der Tories ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. David Cameron hat versprochen, beizeiten vor den Wahlen von 2020 den Parteivorsitz abzugeben, und seine Verstrickung in die Affäre um die Panama Papers hat diesem Versprechen eine neue Dringlichkeit verliehen. Auch das Referendum über einen britischen EU-Austritt im Juni könnte die bisher sorgsam unter der Oberfläche gehaltenen Spannungen innerhalb der konservativen Partei eskalieren lassen; schließlich ist sie beim Thema Europa tief zerstritten.

Manche Corbyn-Freunde meinen, dass ihm der Druck des schweren Amts schon jetzt zusetze. Andererseits wächst er – sowohl in Parlamentsdebatten als auch im Umgang mit den Medien – sichtlich in die Rolle hinein, die er nie zu übernehmen gedachte. Er mag der unwahrscheinlichste Vorsitzende in der Geschichte von Labour sein, doch so sehr es sich manche seiner Parteifreunde auch wünschen: Er wird so bald nicht wieder weichen.

Dan Hancox kennt und beobachtet Jeremy Corbyn seit vielen Jahren. Er schreibt für den Guardian über Politik und Popkultur.

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