Mao-Bibel

A–Z Nach ihrem Erscheinen auf Deutsch 1967 mutierten sie schnell zum ultimativen revolutionären Accessoire. Ein Sit-in ohne Mao-Bibel? Undenkbar. Unser Wochenlexikon
Ausgabe 20/2018

A

Althusser Im Paris der 1960er kamen Maos Texte in der Auseinandersetzung mit der Kommunistischen Partei und der philosophischen Tradition zum Einsatz: Die 1937 verfasste Broschüre Über den Widerspruch enthalte „Analysen, in denen die marxistische Auffassung des Widerspruchs unter einem der Hegelschen Perspektive ganz fremden Licht erscheint“, heißt es in Louis Althussers Widerspruch und Überdetermination (Zitierfähig). Westdeutsche K-Gruppen orientierten sich auch da zumeist am älteren Modell der Lenin’schen Kaderpartei, wo sie sich auf China beriefen.

Auch wenn die intellektuelle Karriere der Worte in Deutschland wohl bescheidener ausfällt, zum Einsatz kamen sie: Frei nach Marx – die Waffe der Kritik kann die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die Theorie wird aber zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift – ergriff 1969 ein Heidelberger Student das kleine rote Buch mit dem stabilen Plastikeinband und warf es auf seinen Dozenten. Morten Paul

D

Dekoration „Wir gingen ab ’69 stärker in marxistisch-leninistische Orientierungsmuster über. Das führte zum Beispiel dazu, daß wir Weihnachten ’69 noch einen Weihnachtsbaum hatten, weil wir ja noch ein Kind zu betreuen hatten, aber dieser Weihnachtsbaum war mit 40 Maobibeln geschmückt, um die Besonderheit unserer Haltung auch zu Weihnachten zu dokumentieren“, erinnert sich Günther Nollau an seinen Umgang mit dem kleinen roten Buch in einer Berliner Wohngemeinschaft. Sich von der Buchgläubigkeit der vorherigen Generation absetzend, geriet das Buch als rote Weihnachtskugel wieder zum Symbol statt zur Handlung. Als Objekt markierte die Mao-Bibel eine intellektuell-politische Zugehörigkeit und stellte die vielfältigen, teils absurd-ambivalenten Gebrauchsweisen (Wackelstütze, Wahrheit) von Büchern aus. Anke Jaspers

G

Godard In La Chinoise, Jean-Luc Godards großartigem Film von 1967, nehmen wir am Leben einer studentischen Wohngemeinschaft in Paris teil, bestehend aus zwei Mädchen und drei Jungen, die sich zur revolutionären Zelle erklären. Gleich in der dritten Minute werden Dutzende Mao-Bibeln (siehe Foto) auf zwei weiße Wandregale verteilt, was sehr ➝ dekorativ aussieht. Bald hören sie sich das erste Referat an und diskutieren darüber. Als Vortragenden haben sie einen jungen Afrikaner eingeladen. Godard hat sich das nicht ausgedacht, ich selbst habe diese Sitten 1968 in einer italienischen Großstadt mit angesehen. Doch hat er sie wundervoll karikiert. Aus den Sitzungen, die damals wohl auch in Frankreich und Italien „Schulung“ hießen, macht er richtige Schulstunden, wo der Lehrer einen Satz anfängt und die Schüler auffordert, die fehlenden Wörter zu ergänzen.

Das Rot der Mao-Bibeln wird zur Plakatfarbe. Der ganze Film ist eine Meditation über Knallrot, Knallblau und Knallgelb, wobei Godard sicher auch an ein berühmtes, 1966 gemaltes Bild dachte, „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“ von Barnett Newman. Michael Jäger

H

Harry Potter Die Mao-Bibel und Harry Potter gehören zu den meistgedruckten Büchern der Welt. Nur die Bibel hat noch mehr Leser, sie hatte aber 500 Jahre mehr Zeit, sich zu verbreiten. Circa 1,5 Milliarden Mal wurde die Mao-Bibel in nur einem Jahrzehnt hergestellt, in Deutschland zirkulierte sie 1967 hunderttausendfach. Es profitierten nicht nur die Vinyl-Zulieferer. Der Verkauf des Büchleins, das Mao-Fans kostenfrei in der Chinesischen Botschaft in Ost-Berlin beziehen konnten, trug auch zu den Einkünften der Kommune 1 bei und ermöglichte die Gründung des Trikont-Verlags, der Zehntausende Exemplare direkt aus China bezog und mit den Erlösen sein übriges Programm finanzierte. Anke Jaspers

J

Jesus Worte des Vorsitzenden Heinrich, München, Heinz Moos Verlag 1968. Quotations from Chairman LBJ, New York, Simon and Schuster 1968. Bo Dan Andersen, Søren Hansen, Jesper Jensen: Das kleine rote Schülerbuch, deutsche Bearbeitung Peter Jacobi und Lutz Maier nach der dritten Auflage von 1969, Frankfurt am Main, Verlag Neue Kritik 1970. Worte des Vorsitzenden Jesus, zusammengestellt von David Kirk, Freiburg im Üechtland, Imba Verlag 1971. Jürgen Baumann: Zu den Worten des Vorsitzenden Mao Tse-Tung, mit einer verfassungsrechtlichen Einführung in das Grundgesetz von Günter Dürig, Stuttgart-Degerloch, Seewald Verlag 1971 (Wackelstütze). Morten Paul

L

Lin Biao Er soll sich beim Verfassen der Kalligrafie, die nach dem Porträt Maos die Worte des Vorsitzenden eröffnet, verschrieben haben! „Studiert die Werke des Vorsitzenden Mao Tse-tung, hört auf seine Worte und handelt nach seinen Weisungen!“ Ob diese Entehrung des heiligen Zitats mit ein Grund dafür war, dass Vize Lin Biao ab Anfang der 1970er Jahre bei Mao in Ungnade fiel, lässt sich nur vermuten.

Um Lin als Promoter der Mao-Bibel (PLA Daily) war im Laufe der Kulturrevolution ein kleiner Personenkult entstanden – ungewollte Konkurrenz für den Großen Vorsitzenden. Lin fiel in Ungnade, er starb auf der Flucht bei einem Flugzeugabsturz. Alle Mao-Bibeln mit seinem Vorwort wurden eingezogen, das kleine rote Buch erschien fortan ohne seinen Begleitschutz. Wer das Buch bereits im Regal stehen hatte, musste pflichtbewusst den Namen Lins durchstreichen und die Kalligrafie herausreißen. Anke Jaspers

M

Makulatur Nachdem Mao seinen Machtanspruch durchgesetzt hatte, verlor die kulturrevolutionäre Mobilisierung (PLA Daily) an Bedeutung. 1971 wurden kaum noch Worte gedruckt.

Mao aber blieb die Referenz, so dass die 1970 gezählten 123,44 Millionen Exemplare, die in Magazinen in ganz China lagerten, genau das weiter taten. Erst nach seinem Tod stellte sich die Frage, was mit den Beständen zu tun war, die die Lagerräume verstopften. Das war nicht trivial (Dekoration), sollte doch der Eindruck eines Bruchs Deng Xiaopings mit seinem Vorgänger vermieden werden: Im Ausland wurden die Worte weiter verkauft, in China selbst stillschweigend zerstört. Wer das allein für einen Defekt der Planwirtschaft hält, hängt allerdings einer idealisierten Vorstellung von kapitalistischer Marktwirtschaft an. Auch in ihr ist Buchvernichtung ein alltägliches Phänomen. An die 100 Millionen Exemplare sollen es in Frankreich sein – jedes Jahr. Morten Paul

P

PLA Daily 1961 erhielt die Armeezeitung die Weisung, dem täglichen Leitartikel ein Mao-Zitat beizufügen; nach den katastrophalen Folgen der Industrialisierungskampagne geschwächt, hatte Mao die Parole ausgegeben, von der Volksbefreiungsarmee zu lernen. Die war ihm loyal ergeben, seit Lin Biao die politische Bildung (das hieß: Mao) ins Zentrum gestellt hatte. Zunächst in einem Papierumschlag, war eine Zitatesammlung, die 1964 auf Anregung der Zeitung erschien, so populär, dass sie den Neid konkurrierender Parteiapparate auf sich zog. Die lancierten eigene mit der Begründung, die Armee-Version entstelle das Denken Maos. Der sah das anders: Die Werke von Marx, Lenin und Stalin seien zu lang, „dieses Buch ist nicht schlecht“. Morten Paul

V

Vinyl Ein deutscher Chemiekonzern soll laut Sinologe und Kursbuch-Herausgeber Tilman Spengler das Material für den roten Kunststoffeinband geliefert und daran gut verdient haben. „Als Mao von den Kosten erfuhr, soll er bestürzt gewesen sein.“ Welche Wirkung das Buch allein durch sein auffälliges Äußeres entfaltete, stellt die Persiflage in Harun Farockis Film Die Worte des Vorsitzenden (1967) dar. Wie im Schaufenster dreht sich das Vinylbuch auf einer Vinylplatte, die (scheinbar) eine Collage von Mao-Zitaten von Helke Sander abspielt.

Als Markenzeichen einer Protest- und Popkultur war es ebenso Werbeträger wie die zeitgleich sich verbreitende Aldi-Tüte. Noch etwas haben Plastikbuch und Plastiktüte gemeinsam: Beide sind heute nahezu verschwunden. Anke Jaspers

W

Wackelstütze Auch bei dieser Bibel gehörte ich nie zum Kreis der Gläubigen, konnte mich also später nicht als Renegat interessant machen. Versprengte Jusos auf dem Lande, führten wir eine Zeitlang das rote Büchlein mit uns wie heute die liebe Jugend das Handy. Wir versuchten, jederzeit einem aus der Hüfte geschossenen Spruch einen anderen per Bibelstechen entgegenzusetzen.

Dieser Witz war jedoch schnell verbraucht. Mein Exemplar diente dann als Wackelstütze für die Schreibtischimprovisation in einer kargen Studentenbude (wiewohl der Plastikeinband aus Vinyl arg zum Wegrutschen neigte). Eines Tages besuchte mich ein streng spartakistisch orientierter Freund und erteilte mir eine ernste Rüge: Bei allen grundlegenden Divergenzen sei das immerhin ein Werk der Revolution! Ich brauchte ungefähr zwei Tage, um zum Ersatz genügend Bierdeckel mitgehen zu lassen.Erhard Schütz

Wahrheit Auf den Büchertischen der 1970er Jahre war sie ein fester Bestandteil. Sie kostete eine Mark, auch damals ein Spottpreis, denn das Hosentaschen-Büchlein war gut gebunden und mit seinem abwaschbaren Umschlag für die täglichen politischen Exerzitien bestimmt. Die maoistischen Parteien der damaligen Zeit definierten sich auch über den Umgang mit den Worten des Vorsitzenden: Man konnte sie als erkenntnistheoretische Übung lesen oder als strikte Handlungsanleitung (Makulatur) in einer Zeit, wo der politische Überblick schon manchmal etwas verloren gegangen war.

Heute, wo ich das „rote Buch“ wieder in die Hand nehme, stelle ich fest, wie unzuverlässig die Erinnerung doch ist. Denn das mir noch heute plausibel erscheinende Dekret, nach dem die Praxis das Kriterium der Wahrheit sei, findet sich gar nicht darin. Dagegen finde ich ganz am Ende der 370 Seiten ganze fünf über „Die Frauen“, die als sozialistisches „Arbeitskräftereservoir“ zu erschließen seien. Es ging eben immer nur um „die dritte Sache“. Ulrike Baureithel

Z

Zitierfähig Ob Arbeit, Kunst, Guerillakrieg oder Frauen – der Große Vorsitzende hat immer einen Rat. Aufschlagen, nachlesen, Antwort finden. Zitieren, Auswendiglernen und Anwenden war von Mao und seinen AnhängerInnen beabsichtigt. „Wenn wir jetzt aufstehen, ist das gut und nicht schlecht“, seufzt Hilla Palm, Protagonistin in Ulla Hahns Spiel der Zeit, im Anblick des noch schläfrigen Liebsten. „Alle Uhrzeit ist ein Papiertiger“, entgegnet dieser widerwillig. Im Spiel mit den Mao-Zitaten deckt Hahn die Generalität (➝ Wahrheit) der Sentenzen auf, die in ihrer provozierenden Schlichtheit liegt. So dynamisch die Zusammenstellung entstand, so frei passen sich Inhalt und Form an neue Kontexte an. Anke Jaspers

Ein kleines rotes Buch Anke Jaspers, Claudia Michalski, Paul Morten (Hrsg.), Matthes & Seitz 2018, 240 S., 28 €

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