Eigentlich gehört das Genre der Flugschrift der Vergangenheit an. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Frühzeit der Französischen Revolution, waren Flugschriften ein Mittel, um politische Polemik auf improvisierten Produktions- und Distributionswegen in einer Geschwindigkeit zu verbreiten, der die Zensurinstanzen der aristokratischen Eliten kaum etwas entgegenzusetzen hatten. Sie schufen einen Raum öffentlicher Diskussion mit neuen Foren wie Salon, Club und Caféhaus, aus denen heraus sich die ersten bürgerlichen Parteien entwickelten. Das klandestin hergestellte, spontan unter die Leute gebrachte Pamphlet wurde bald von der Zeitung beerbt, die seine Produktionsform institutionalisierte und sich zum Sprachrohr der zum Bewusstsein ihrer selbst gelangten neuen Klasse erhob.
Wer heute „Flugschriften“ verbreitet, zehrt noch immer von der revolutionären Vergangenheit der Textform, obwohl diese sich in Gestalt diverser kryptopolitischer Flyer mittlerweile als zeitgemäßes Genre für Werbung und Propaganda bewährt hat. Als „Flugschrift“ wurde hierzulande von der Hamburger Edition Nautilus auch das Manifest Der kommende Aufstand beworben, für welches das „Unsichtbare Komitee“ verantwortlich zeichnet, ein französisches Autorenkollektiv, das personell mit dem Kollektiv Tiqqun verflochten ist. Dessen wichtigste Texte, Theorie vom Bloom, Kybernetik und Revolte, Einführung in den Bürgerkrieg sowie Grundbausteine einer Theorie des Jungen- Mädchens, sind in den vergangenen Jahren bei Diaphanes und Merve auf Deutsch erschienen und wurden auch in der bürgerlich ausgerichteten Presse ausführlich und wohlwollend rezipiert.
Massenauflagen
Dass das „Unsichtbare Komitee“ sich auch die islamistischen Banden der Banlieus als Vorbilder des „revolutionären“ Kollektivsubjekts wählt, dass Tiqqun sich in den Grundbausteinen euphorisch auf die Schriften des Antisemiten und Frauenhassers Otto Weininger beruft, dass alle Schriften der Gruppierung einem Gewaltkult frönen, der nach den instrumentellen Zwecksetzungen der vermeintlich revolutionären Gewalt gar nicht mehr fragt, hat die massenhafte Rezeption ihrer Schriften bestimmt mitbefördert. In Frankreich erzielte das Buch, das anfangs nur in anarchistischen Zirkeln bekannt war – durch die Ermittlungen, die gegen die Autoren wegen vermeintlicher Mittäterschaft bei der Sabotage einer Bahnlinie aufgenommen wurden – plötzlich Massenauflagen (der Freitag berichtete). In Deutschland teilen Merve, Diaphanes, die Edition Nautilus und andere Verlage den Markt für postmoderne Anarcholiteratur untereinander auf. Dessen jüngster Bestseller, Stéphane Hessels Empört Euch!, ist sogar bei Ullstein erschienen.
Hier ist es ein Vertreter des Bürgertums selbst, der seinen zwischen Freiberuflertum und Freistellung ihr Dasein fristenden Erben empfiehlt, die letzten Residuen jener einst revolutionären Klasse zu beseitigen, der er selber entstammt. Im jüngst ebenfalls bei Ullstein erschienenen Spin-off, dem Gesprächsband Engagiert Euch!, adelt Hessel solchen antibürgerlichen Widerstand seinerseits zum „bürgerlichen Engagement“. Von der erwachenden bürgerlichen Freiheit, deren Ausdruck die revolutionären Flugschriften waren, ist der Hass der zur Massengesellschaft zusammengeschmolzenen Bürger auf sich selbst geworden.
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