Mut beweisen: Hilft Zivilcourage gegen Diskriminierung?
Debatte Quintessenz aktueller Debatten: Machtmissbrauch ist ein strukturelles Problem und ist auf individueller Ebene nicht lösbar. Das kann feige machen, warnt Katharina Körting. Falsch, sagt Thomas Gesterkamp – Institutionen müssen sich ändern
Die Wahrscheinlichkeit Hilfe zu leisten sinkt mit steigender Zeug*innenzahl – Wissenschaftler*innen sprechen von „Verantwortungsdiffusion“
Foto: Dominik Leiner/Unsplash
Pro
„Man müsse „intersektional gegen Rassismus vorgehen“, hört man oft. Es werde „viel zu wenig getan“. Wenn ich dann vorschlage: „Wie wäre es, einfach mal selbst den Mund aufzumachen, wenn jemand in der Nähe diskriminiert wird?“, kommt die nächste Akademiker-Keule: „Das ist ein strukturelles Problem! Du darfst Rassismus nicht individualisieren!“
Diese Ausrede ist wunderbar geeignet, sich aus Unannehmlichkeiten herauszuhalten: Strukturen. Aber darf ich das wirklich nicht – individualisieren? Liegt nicht in der Individualisierung von Handeln das Wesen von Zivilcourage – und damit ein Kernelement von Demokratien? Im öffentlichen Raum „bestehende Prozesse zu unterbrechen, und damit einen neuen,
damit einen neuen, unvorhergesehenen und offenen Anfang zu setzen“, wie Hannah Arendt es ausdrückte. Wer, wenn nicht die Einzelne? Wo, wenn nicht innerhalb der Strukturen, die nun mal da sind?Szenenwechsel: Regionalbahn. Neben mir ein Endzwanziger, billige Jeans, bleiches T-Shirt und Gesicht, Restalkohol – keiner, bei dem man direkt Lust hätte, ins Gespräch zu kommen. Ein Kontrolleur, flankiert von bewaffneten Polizisten, fordert Fahrkarten. Der Fremde hat weder Ticket noch Geld und spricht kein Deutsch. Die Uniformierten nehmen ihn mit auf den Bahnsteig, „Personalien aufnehmen“. Als sie draußen sind, atme ich erleichtert auf – und schuldbewusst wieder ein. Warum habe ich nichts gesagt und mich der Banalität der Feigheit unterworfen? Weil mir meine Ruhe wichtiger war?Zivilcourage heißt: Unruhe stiften. Zu stören, indem ich beste bürgerliche Tugenden stark mache. Auch auf die Gefahr hin, Nachteile zu haben. „Bürgerlich“ meint hierbei nicht den bourgeois zündelnden Biedermann, sondern Rousseaus Citoyen: „ein höchst politisches Wesen, das nicht sein individuelles Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt“. Zivilcourage heißt Ausscheren, auch aus der massenkompatiblen Selbstviktimisierung, mit der sich das Individuum mit dem Verweis auf „Strukturen“ aus der Affäre zieht.Shary Reeves hat neulich ein Interview gegeben. Meine Kinder und ich haben der Wissen-macht-Ah-Moderatorin gern zugehört. Ihre dunklere Haut war egal. Sie war einfach da. Das ist vielleicht der wirksamste antirassistische Akt: einfach da zu sein. Und denen, die anderen ihr Einfach-da-sein-Dürfen absprechen, widersprechen. Häufig, erzählt Shary, werde sie rassistisch angegangen. „Bei uns in Deutschland geht man auf der rechten Seite!“, sage man ihr etwa. Und der Bürgersteig schweigt.So wie ich in der Bahn. Bin nicht herausgetreten aus der Anonymität, habe mich nicht als Individuum erkenn- und angreifbar gemacht. Oder so wie Leute, die sich anonym über Machtmissbrauch beklagen. Til Schweiger – schlimm! – soll betrunken herumgewütet haben. Aus Angst vor Nachteilen habe sich niemand gewehrt, heißt es dann, die Strukturen wirken der Zivilcourage entgegen. Das muss man sehr ernst nehmen. Und doch: Womöglich hätte es aber gar keinen strukturellen Machtmissbrauch gegeben, wenn nur einer der Mitschweiger gesagt hätte: „Lass den Scheiß, Til, schlaf deinen Rausch aus!“ Stattdessen zogen alle den Schwanz ein, oder, korrekt gegendert mit einem anderen Till, die „Pussy“. Ich bin auch so eine Pussy. Aber manchmal überwinde ich mich und mache den Mund auf. Nicht weil ich mutig bin, sondern weil ich sonst kein Recht hätte, mich über die toxischen Ismen zu beklagen – Rassismus, Sexismus, Arschlochismus. Weil man bei sich selbst anfangen muss.Theoretisch findet meine Umgebung das auch. Praktisch ist sie froh, wenn ich peinliche Situationen vermeide – und schweige. So steht es um meine Zivilcourage: im Prinzip superwichtig, in der Praxis eher peinlich. Also: Ja, ich brauche mehr davon.Katharina KörtingContraIn den 1980ern, die MeToo-Debatte war noch Jahrzehnte entfernt, nahm ich als Hospitant gemeinsam mit anderen Studierenden an Bildungsurlauben mit Industriearbeitern teil. Unser Dozent, kein Professor, sondern Ministerialbeamter mit Lehrauftrag, praktizierte beim Einchecken am Tagungsort eine eigenwillige Belegung der Übernachtungsmöglichkeiten. Schon im vorausgehenden Uni-Seminar hatte er, ein gut aussehender Mann in den „besten Jahren“, sich die hübscheste Studentin ausgeguckt. Und die zog dann prompt und ohne nennenswerten Widerstand für eine Woche in sein Doppelzimmer. Das bekamen natürlich alle mit. Und vor allem wir, die gleichaltrigen jungen Männer, registrierten es mit einer Mischung aus Neid und Irritation.Heute würde man schonungslos analysieren: Dieser Herr, deutlich älter als seine damalige „Eroberung“ (die in den folgenden Tagen stets etwas verschämt im Hotel herumlief), war eine Art Mini-Weinstein. Er nutzte seine Position, seine Ausstrahlung skrupellos aus. Flirten, erotisches Hin und Her, darauf folgend vermutlich Sex mit einer Abhängigen: Wir nahmen das schweigend hin, es schien ja alles einvernehmlich zu sein. Dass Machtmissbrauch im Spiel sein könnte, auf diese Idee kamen wir nicht.In der Arbeitswelt gibt es weit brisantere Settings. Hier kann die fatale Abhängigkeit von einem Chef (in Ausnahmefällen: einer Chefin) eine Existenz ruinieren, in dem Fall mit dem Dozenten ging es höchstens um ein paar Seminarscheine oder eine demnächst erfolgreiche Klausur. Und selbstverständlich gelangte die Geschichte nie an die Öffentlichkeit.Auch wenn jemand, vielleicht sogar die Studentin selbst, den Mut gehabt hätte, sie weiterzuleiten: Die Hochschulverwaltung wäre kein bisschen interessiert gewesen. Es gab damals an den Universitäten weder Gleichstellungs- noch Antidiskriminierungsbeauftragte und nur wenig Sensibilität für sexuelle Belästigung. Auch in den Medien hätte man kein offenes Ohr für diese Form von Machtmissbrauch gefunden.Das änderte sich dann durch die MeToo-Debatten, die Mitte 2017 in den USA lanciert wurden und mit ein wenig Verspätung auch in Europa ankamen. 2018 ist der Westdeutsche Rundfunk in Köln, mit 4.000 festen und noch erheblich mehr freien Mitarbeitenden größter Sender der ARD, plötzlich mit einem gravierenden Imageschaden konfrontiert. In der Abteilung Fernsehspiel hat ein Redakteur die Vergabe lukrativer Filmaufträge mit Annäherungsversuchen gegenüber weiblichen Anbieterinnen verknüpft. Die Anstalt steht wegen der Vorwürfe kopf, denn ganz offensichtlich ist das nur die Spitze des Eisbergs. Penible Untersuchungen werden eingeleitet, interne Debatten geführt. Schnell ist klar: Das Problem liegt tiefer als nur im Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, das Männer immer wieder ausnutzen können.Der Fisch stinkt vom Kopf her, Hauptursache ist der autoritäre Aufbau von Institutionen. Es fehlen offene Diskussionsräume, es gibt zu wenig Möglichkeiten, Fehler von Vorgesetzten und anderen Führungskräften anzusprechen. Eine externe Analyse, vom WDR selbst veranlasst, zeichnet das Bild einer streng hierarchischen Organisation. Das Genderthema ist deshalb noch lange nicht belanglos.Frauen sind in vielen Unternehmen trotz Emanzipation immer noch Bittstellerinnen. Männer haben meist mehr Entscheidungskompetenz, sie vergeben die wichtigen Aufgaben. Um solchen Strukturen entgegenzuwirken, braucht es mehr als moralische Appelle, nämlich verbindliche Regeln. Die persönliche Courage von Betroffenen allein hilft wenig – auch wenn ich sie meiner damaligen Kommilitonin gewünscht hätte.Thomas Gesterkamp