Collage: der Freitag, Material: Biodiversity Heritage Library/Flickr, Pixabay
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Allergien Als der Arzt sagte, „eine Atopikerin wie aus dem Bilderbuch“, soll ich fröhlich in die Hände geklatscht haben, sagt meine Familie. Ich war zu jung, um zu kapieren, dass mir wohl keine beglückende Verwandlung wie der Kleinen Raupe Nimmersatt blühte. Laut Anamnese sah es nach einer Laufbahn als Allergikerin aus. Heuschnupfen, Asthma oder atomisches Ekzem, irgendwas davon hatte jeder in der Verwandtschaft. Rote Augen, rasselnder Atem, Juckreiz, außer im Winter. Aber da macht man auch kein Picknick im Grünen. Natur guckten wir uns ab März hinter dem Fensterglas an, fast wie im Aquarium. Sobald die Gräserpollen kamen, wurde gelost, wer Rasen mäht, mit Taucherbrille. Das brachte nicht viel, wir kapitulierten. Kein Mähen, ke
t viel, wir kapitulierten. Kein Mähen, kein Jäten, nur Gießen. Klarer Sieg für die Natur: In keinem Garten summten und brummten die Insekten lauter als in unserem. Martina MescherCCampen Die Sommernacht ist lau und – bis auf die Sterne – so dunkel, wie die Nacht nur in der Natur sein kann, haben sie gesagt. Es sei so still wie nirgendwo sonst. Abgesehen natürlich vom Zirpen der Grillen und dem Gurgeln eines nahe gelegenen Sees. So hat Wildcampen zu sein, so klingen die Geschichten. Nach Freiheit, nach Rückkehr zum Ursprünglichen. Genauer betrachtet ist das Übernachten in freier Wildbahn eine grausige Sache. Der Klogang zum Beispiel: Das Unterholz ist doch keine adäquate Sanitäranlage. Überhaupt ist die Natur nicht schön, sondern der Feind. Die „Stille“ ist furchteinflößend. Einmal übernachteten mein Vater, meine Schwester und ich auf einem Weinberg. Mein Vater aber tat kein Auge zu, weil er im Wald Wildschweine wüten hörte. Wunderbar, nicht wahr? Ein anderes Mal nächtigte ich am Rande eines Waldes – schlief allerdings kein bisschen, weil mich eine Armada an Ameisen und anderem Getier bekrabbelte. Die Natur rückt dem Camper gnadenlos auf die Pelle. Benjamin KnödlerEEgotronic Es gibt Musikalben, die hält man erstmalig in der Hand und versteht nur Bahnhof: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band – wer? Und es gibt Alben, da liest man den Titel und fühlt sich sofort verstanden. Egotronics Die Natur ist dein Feind aus dem Jahr 2014 ist so ein Album. Im titelgebenden Track sinniert Sänger Torsun Burkhardt zurückhaltend, fast unschuldig über die Erbarmungslosigkeit der Umwelt (➝ Campen):„Die Natur ist dein Feind, gewöhn’ dich, alles zu verlier’n. Die Natur ist dein Feind, denn niemand kann sie kontrollier’n.“ Die Natur spielte auf Egotronic-Alben zuvor höchstens in Form von organischen Drogen (siehe den 2006er-Track Pilze) eine Rolle, bis bei Burkhardt eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert wurde. Der aggressive Ravesound wich der etwas sanfteren Instrumentierung. Der Hass (auf Nazis, auf Deutschland, auf die Arbeit etc.) wurde gedämpfter, resignierter. Die Natur ist dein Feind ist eine Kriegserklärung an einen übermächtigen Gegner und zugleich Kapitulation gegenüber dem großen organischen Anderen, der macht, was er will, egal wie sehr man rebelliert. Das taugt, um nach einer durchzechten Nacht die unbarmherzig aufgehende Sonne zu beschimpfen – oder einen Tod zu betrauern. Groß! Konstantin NowotnyGGreen Mamba Einige Zeit lebte ich in Südafrika – Begegnungen mit Schlangen kamen vor. Die erste versetzte meinen deutschen Mitbewohner in Panik: Er forderte, ein teures, stets nur kurz haltbares Gegengifte-Set zu kaufen. Unnötig, befanden die Ortsansässigen. Wenn ihnen eine Schlange unterkam, erschlugen sie sie mit dem Spaten. Ich wertete das als aus Angst gespeisten Hass und versuchte fortan, Schlangen wild fuchtelnd in die Flucht zu schlagen. Alle konnte ich nicht retten, ein von den „Locals“ Green Mamba genanntes Exemplar schon. Laut Wikipedia war es eher eine grüne „gewöhnliche Mama“ als eine „Grüne Mamba“, aber egal: Wir rissen gerade mit Farmarbeitern eine von Gestrüpp überwucherte Stall-Ruine nieder, als sie aus dem Gemäuer kroch – und entkam. Die Locals schüttelten nur den Kopf über diesen seltsamen Europäer. Sebastian PuschnerJJahreszeiten „Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte“, das waren für Goethe die „Triebfedern“ des Lebens. Er liebte die Natur als natürliche Wiederholung. Über Andersdenkende spottete er: Im Überdruss habe einer „das Frühjahr wieder aufgrünen gesehen und gewünscht, es möchte zur Abwechslung einmal rot erscheinen“. Ein andrer habe „sich aufgehangen, um nicht mehr täglich sich aus- und anzuziehn“. Heute würde man sagen, das Smartphone sei ausgereizt, jetzt werde die smarte Brille gebraucht. Michael JägerKKurt Tucholsky Weg mit den Alpen – freie Sicht zum Mittelmeer!, skandierte vor 30 Jahren die revoltierende Jugend der Alpenrepublik auf der noblen Zürcher Bahnhofstraße. Zelebrierte der bergstiefelbewehrte Nachwuchs hier seine naturfeindliche Wende? Frei nach dem berühmten Gedicht von Kurt Tucholsky, der die Utopie der Berliner aus den Niederungen des Urstromtals besang: „Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, / vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;/ mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, /vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn.“ Die Steine werfenden Jugendlichen hatten natürlich den politischen Alpenmuff im Blick. In Westberlin konnten die Betonköpfe eine Kahlschlagsanierung wie in Stuttgart verhindern. Ulrike BaureithelMMagnolie Wenn sich der Professor am Morgen in seiner Villa in Weißensee an den Schreibtisch setzte, so ist es überliefert, dann nahm er vor allem anderen zwei Handlungen vor: Er zündete sich eine Pfeife an. Und er ließ die Gardine am Fenster, das zum Garten ging, zuziehen. Besonders notwendig schien ihm das im Frühjahr, denn vor seinem Fenster blühte dann in aller Pracht eine Magnolie.Professor Jürgen Kuczynski, Weltbürger und einer der bedeutenden Gelehrten der DDR, erzählte die Geschichte gern, wenn er erklären wollte, wie zu arbeiten sei. Vollste Konzentration auf den Gegenstand, keine Ablenkung, Ausschaltung der Sinne, nur der Verstand. Da saß er dann von morgens bis in die Nacht qualmend zwischen Tausenden Büchern, Zeitschriften und Manuskripten. So schafft man ein Werk, das am Ende, Kuczynski wurde naturfern 93 Jahre alt, an die 100 Bücher und unzählige Aufsätze umfasste. Das bleibt. Und die Magnolie blühte schließlich auch ohne den Geist(➝ Žižek). Maxi Leinkauf SStubenhocker Wie so vieles erlangte auch der Begriff des Stubenhockens in diesem Jahr neue Bedeutung. Von wegen: „... mager, engbrüstig, und die ganze Gestalt verrät den Stubenhocker“ (Gerhard Hauptmann) – was früher abwertend gemeint war, ist heutzutage das erstrebenswerte Ideal für die ganze Familie. Und mehr noch: es gilt sogar als gesünder, was ebenfalls ein Novum in der Geschichte des Stubenhockens ist. In diesem neuen Licht betrachtet, fällt auch die Schönheit des Begriffs an sich ins Auge, vor allem wenn man ihn gegenüber der einzigen im Internet vorgeschlagenen englischen Übersetzung „couch potato“ sieht. Das ist doch etwas völlig anderes, möchte man dem Bildschirm widersprechen. Die „couch patato“, die ist doch eher dick und glotzt passiv vor sich hin, während die Stubenhocker:in mit zarter Figur ein gutes Buch aufschlägt und sich darin versenkt. Als deutsches Synonym spuckt das Internet übrigens den „Kalmäuser“ heraus, eng verwandt mit „klamüsern“ – „über etwas genau nachdenken“. Das Gebot der Stunde! Barbara SchweizerhofTThomas Bernhard Sucht man jemanden, der begnadet gut darin ist, die Welt scheußlich zu finden, landet man naturgemäß bei Thomas Bernhard. Seine Tiraden gegen so ziemlich alles von Augsburg bis Wien füllen ein ganzes Buch mit Stadtbeschimpfungen. Dass seine Romanfiguren Kontemplation in der Naturbetrachtung finden, lässt sich schlechterdings aber auch nicht behaupten. „Diese Landschaft wird, so oft ich sie anschaue, immer hässlicher“, sagt der Maler Strauch in Frost. Im Sommer kämpft man da mit „Millionen von Mücken“, bei „Grabeskälte“ wirkt sie dermaßen morbide, dass sich der Leser ständig fragt, wer sich als Nächster über den Felsen in die Schlucht stürzen wird. Stumpfe Farben, Äste, die wie „wilde Tiere“ ins Gesicht springen, Vogelschwärme, die den düsteren Himmel über dem Bergtal weiter verdunkeln, immer heult irgendwo ein Hund und die Dorfkinder finden im Wald eine Panzerfaust. Ob Bernhard tatsächlich ein Naturhasser war, wie sein titelgebendes Zitat Ich hasse die Natur für eine 2021 startende Sonderausstellung suggeriert, ist nicht ausgemacht. Was Bernhard hasste, war verlogene Idylle. Vor allem die der Nachkriegszeit. In Österreich galt er als Nestbeschmutzer. Er schreibe nur über „innere Landschaften“, hat er mal gesagt. Und dabei zur Naturbeschimpfung grandiose Wortschöpfungen wie „Winterschikane“ (➝ Winterfrust) oder „Hochgebirgswahnsinn“ für den alpinen Familienurlaub hervorgebracht. Martina MescherWWinterfrust Ganz tief unten, am Südpol, gibt es vor allem dreierlei: Wasser, Eis – und Pinguine. Kaum vorstellbar, dass an diesem bitterkalten Ort jemand leben möchte, aber die Tiere finden es mollig hier. Nur einer friert sich den Allerwertesten ab: Pablo, der am falschen Ort geborene Pinguin in dem Disney-Film Drei Caballeros. Der arme Kerl steht immerzu in seinem Iglu am Bollerofen, den er liebevoll den „rauchenden Joe“ nennt. Pablos brennender Wunsch ist es, den Rest seines Lebens an einem tropischen Strand zu verbringen. Ich sah als Kind unzählige Filme, nie aber konnte ich mich mit einer Figur so gut identifizieren wie mit Pablo. Als blondes Bleichgesicht aus Deutschland, in dem es die meiste Zeit des Jahres grau und kalt ist, sehne ich mich seit jeher nach immerwährender Sonne. Das Happy End steht noch aus, zumindest für mich. Denn Pablo lässt sich im Film auf einer Karibikinsel nieder. Ich stehe noch immer vor dem Bollerofen – in Berlin, dem in jeder Hinsicht kältesten Ort des Landes. Christian BaronZŽižek In der Dokumentation The Pervert’s Guide to Cinema aus dem Jahre 2006 analysiert der slowenische Philosoph Slavoj Žižek Filmklassiker, unter anderem mithilfe der Lacan’schen Psychoanalyse. Schnell wird deutlich, dass Kulturkritik für Žižek kein Job ist, sondern auch die Szenen seines Lebens bestimmt. „Ich glaube, dass Blumen etwas inhärent Widerwärtiges an sich haben“, zetert er beim Blumengießen (➝ Magnolie). Er verweist auf den libidinösen Charakter des offenen Blütenstandes von Tulpen, der ihn an den Freud’schen Mythos der „Vagina dentata“ erinnert. „Im Grunde ist das eine offene Einladung an alle Insekten, bitte vorbeizukommen und sie durchzunehmen.“ Konstantin Nowotny
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