Neue Krimilektüre: Von Rob Corbetts „Carpe Diamond“ bis Joe Thomas' „Brazilian Psycho“
Literatur Tödliche Hybris – mit oder ohne Drogenritual : Joachim Feldmann analysiert außergewöhnliche Fälle von ungewöhnlichen Ermittlerinnen und Ermittlern. Die literarischen Verbrechen erstrecken sich dieses Mal vom Nordkap bis São Paulo
Eisig: „Arctic Mirage“ heißt das Luxushotel in Lappland, das Namensgeber des Krimis von Terhi Kokkonen ist
Foto: Jonathan Nackstrand/AFP/Getty Images
Leichen pflastern seinen Weg. Und der führt von Mexiko hinauf ins nördliche Kanada. Dort hat der Killer etwas zu erledigen. Wer letztendlich dran glauben muss, ist allerdings noch nicht entschieden. Denn es gibt zwei Auftraggeber. Und zwei mögliche Opfer. Der Killer fährt ein luxuriöses Wohnmobil mit getönten Scheiben und Hightech-Ausstattung. Seine Geschäfte gehen gut. Aber er versteht es auch, sich zu Fuß durchzuschlagen. Notfalls lebt er von Beeren und Pilzen, die er im Wald findet. Die bizarre Landschaft nahe dem Polarkreis fasziniert ihn, Schnee sieht er zum ersten Mal in seinem Leben. Also verschiebt er seine Abreise. Cambino Cortez, so einer der vielen Namen des mordlustigen Naturliebhabers, ist die unheimlichste Figur, die der kanadische Schr
der kanadische Schriftsteller Ron Corbett für seinen Roman Cape Diamond erfunden hat.Und das will etwas heißen, denn in diesem finster funkelnden Krimi wimmelt es von Bösewichten. Schwer bewaffnete Banden, deren Geschichte bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht, bekriegen sich, als ob die Pionierzeit noch nicht vorbei wäre. So soll es zumindest aussehen. Dann taucht der Killer auf. Frank Yakabuski von der örtlichen Polizei braucht einige Zeit, bis ihm klar wird, dass er einer perfekt inszenierten Scharade aufgesessen ist. Also bleibt das Ende offen und lässt genügend Stoff für eine Fortsetzung. Cape Diamond ist der zweite Band von Corbetts Reihe um den desillusionierten Kriegsveteranen, der sich oft auf seine Intuition und gelegentlich auf seine physische Schlagkraft verlässt. Zwei weitere Romane liegen bereits im Original und hoffentlich bald in deutscher Übersetzung vor. Überzeugendere Beispiele für die Vitalität des Genres dürften sich in der aktuellen Spannungsliteratur kaum finden lassen.Eine Tagesreise weiter südlich setzt die deutsche Autorin Frauke Buchholz ihren Helden, den Profiler Ted Garner, den Unbilden der Natur aus. Natürlich ohne ihn für die Wildnis British Columbias auszurüsten. Also tapert der arme Kerl im schicken Wollanzug durch den Wald, ein blutiges Jagdmesser in der Jackentasche. Ist er ein Mörder? Garner weiß es nicht.Nach einer Peyote-Zeremonie ist er neben einer skalpierten Frauenleiche aufgewacht. Die Dame, eine esoterisch veranlagte Psychotherapeutin aus Österreich, hatte er am Abend zuvor im Tagungshotel kennengelernt. Von ihr kam die Einladung, gemeinsam an dem traditionsreichen Drogen-Ritual teilzunehmen. Dass Garner im Rausch gemordet haben könnte, ist ziemlich unwahrscheinlich, zumal er die Technik des Skalpierens nicht beherrscht. Aber reicht das, um die Polizei zu überzeugen?Berechtigte Zweifel quälen den erfahrenen Kriminalisten. Also beschließt er unterzutauchen und selbst nach dem Mörder zu suchen. Zum Glück funktioniert sein Handy, also kann er sich mithilfe von Google Maps orientieren. Und er hat einen Namen, nämlich den des indigenen Medizinmannes, der die Peyote-Zeremonie veranstaltet hat. Dass es Garner gelingt, den Fall zu klären, während ihm gleichzeitig die Polizei aus Vancouver auf der Spur ist, versteht sich. Schließlich ist Skalpjagd nicht der erste Fall, in den Frauke Buchholz ihren Serienhelden verstrickt. Die gebürtige Rheinländerin hat einige Zeit in einem Cree-Reservat in Kanada gelebt und ihre Erfahrungen in bislang drei Kriminalromanen verarbeitet. Aber ohne das im weltweiten Netz verfügbare Wissen kommt sie in ihrem neuen Buch leider nicht aus. Da es nicht bei einem skalpierten Mordopfer bleibt, müssen historische Informationen über die grausame Praxis, Älteren aus der Karl-May-Lektüre hinreichend bekannt, her. Und was macht eine geschickte Autorin in einem solchen Fall? Sie lässt einen ihrer Ermittler googeln. Dass der dabei ausgerechnet auf einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag stößt, den es dann in umfänglichen Auszügen zu lesen gibt, ist die bedauerliche Folge. Auch der Krimiplot aus der Psychokiller-Retorte überzeugt leider nur begrenzt. Was schade ist. Denn Frauke Buchholz kann durchaus schreiben, wie ihre plastischen Naturbeschreibungen zeigen.Als Tony Hillerman 1970 mit Wolf ohne Fährte seinen ersten Kriminalroman über die Navajo-Polizei veröffentlichte, gab es noch keine allwissenden Internet-Enzyklopädien. Hillerman hätte auch auf sie verzichten können, denn seine Kenntnisse indigener Kulturen stammten aus erster Hand. Bis 2006 ließ er Lieutenant Joe Leaphorn und Sergeant Jim Chee in 18 Fällen ermitteln, zunächst jeden für sich und später gemeinsam. Die lange vergriffenen deutschen Übersetzungen werden nun sukzessive in überarbeiteten Fassungen vom Unionsverlag wieder aufgelegt. Von der ersten Begegnung beider Polizisten erzählt die Stunde der Skinwalker. Wie es sich für erfolgreiche Ermittlerpaare gehört, fremdeln der nüchterne Skeptiker Leaphorn und der traditionsbewusste Chee zunächst gehörig miteinander. Zumal es um einen Fall geht, in dem der Navajo-Mythos von den Skinwalkers, bösartigen Geistern, die ihre Gestalt nach Belieben wechseln können, eine zentrale Rolle spielt.Bis die Ermittler herausfinden, dass sehr menschliche Eigenschaften, vor allem Hybris, hinter den Verbrechen stecken, ist es fast zu spät. Stunde der Skinwalker ist ein mit Sympathie für seine Figuren erzählter Kriminalroman, der von seinem ungewöhnlichen Setting sowie fein ausgetüfteltem Plot lebt. Er eignet sich gut als Einstieg in diese empfehlenswerte Reihe.Die These stammt aus einem Agatha-Christie-Roman: Der Mord zu Beginn eines Detektivromans müsste eigentlich am Ende stattfinden, sei er doch das Ergebnis einer komplexen Verkettung von Umständen und Ereignissen in der Vergangenheit. Die finnische Autorin Terhi Kokkonen beherzigt diese Erkenntnis auf ungewöhnliche Weise. Wer wen umbringt, ist schon im Prolog zu ihrem Roman Arctic Mirage klar, erzählt wird, wie es zu der Tat kam. Und das auf sehr subtile Weise. Arctic Mirage ist der Name eines Luxushotels in Lappland. Zimmerpreise von einigen hundert Euro sorgen für eine entsprechende Klientel. Karo und Risto passen hierhin. Oder doch nicht? Als ein Autounfall sie zwingt, länger als geplant in dem Hotel zu bleiben, wird die Situation ungemütlich.Die Atmosphäre fühlt sich so falsch an wie die samische Tracht der Angestellten. Zwischen Karo und Risto kommt es immer häufiger zu Streit. Was nicht verwunderlich ist, denn die Beziehung scheint von Anfang an problematisch. Doch wie tief die Risse zwischen den beiden gehen, zeigt sich erst im Verlauf der multiperspektivisch erzählten Handlung. Risto, eifriger Leser von Achtsamkeitsliteratur, entpuppt sich als gerissener Manipulator, während Karo zunehmend an ihrer Wahrnehmung zweifelt. Und obwohl der Ausgang bekannt scheint, entwickelt dieser gekonnt arrangierte, nur von der Seitenzahl her schmale Roman psychologische Hochspannung.Epische Breite und knappe Sätze hingegen sind das Stilmerkmal des englischen Schriftstellers Joe Thomas, der sich in seinem Roman Brazilian Psycho anschickt, eine der größten Städte der Welt erzählerisch in den Griff zu bekommen. Oder, besser gesagt, bewusst daran scheitert. Denn São Paulo lässt sich nur fragmentarisch darstellen. Zusammenhänge herzustellen, bleibt Aufgabe der Lektüre. Schließlich sind die Methoden der Organisierten Kriminalität nur mit Mühe zu durchschauen und darin den Spielchen der politisch Mächtigen nicht unähnlich. Gute Absichten verkehren sich da leicht in ihr Gegenteil, wie die anhaltende Korruption nach dem Amtsantritt Lula da Silvas im Jahre 2003 zeigt. Und wer glaubt, dass sich die Verhältnisse 2019 nach dem Wahlsieg Jair Bolsonaros gebessert hätten, demonstriert wahrscheinlich heute noch für den Möchtegerndiktator. Die 16 Jahre zwischen diesen beiden politischen Landmarken bilden den Handlungsraum des Romans. Die Protagonisten sind kleine und größere Akteure auf beiden Seiten des Gesetzes. Wenn man überhaupt von Gesetz sprechen kann. Denn das Recht ist in Brasilien eine flexible Angelegenheit. Brazilian Psycho ist ein ambitionierter Versuch, diesen Zustand abzubilden. Das macht die Lektüre nicht einfach, aber durchaus faszinierend. Wer, durch den Titel animiert, erwartet, dass irgendwann ein durchgeknallter Killer auftaucht, muss dafür nur genügend Geduld aufbringen.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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