A–Z Eine Plastiktüte wird über die Straße geweht. Das E-Mail-Programm verschickt Out-of-Office-Meldungen. Es passiert nichts. Doch was ist das Nichts genau?
Anfang Wenn mit Beginn des Sommers Jahr für Jahr die Bundesligasaison endet, steht der Fußballfan vor einem bedeutungslosen Nichts. Keine U 21, keine Nationalmannschaft, erst recht keine Frauen-Nationalmannschaft, kein Supercup und keine Asienreise sind in der Lage, dieses Nichts zu füllen (➝ Taugenichts): Wie ein Schulkind am Ende der Ferien, das nicht glauben mag, dass es irgendwann wieder den Sommer erlebt, steht der Fan vor zwei Monaten Spielpause, verzweifelt. Doch dann – mitten hinein in diese spießige Form des Fin-de-Siècle-Feelings platzen Anfang August zuverlässig die Vorzeichen des Neubeginns. Was vergangen, zählt nicht mehr und ward vergessen; alles steht auf Anfang, die Vereinsträume wachsen in den Himmel, die Foren glü
nsträume wachsen in den Himmel, die Foren glühen vor Zuversicht, und spätestens mit dem ersten Spieltag ist für alle unvorstellbar, dass die Saison jemals enden könnte. Timon Karl KaleytaGGodot In Becketts Prosa scheint auf den ersten Blick Vergeblichkeit das Thema zu sein. Titel wie Das letzte Band, Erzählungen und Texte um Nichts und Worstward Ho legen das nahe. Und auch En attendant Godot fällt in diese Kategorie nihilistischer Texte. Da warten zwei auf jemanden mit dem Namen Godot. Es ist sinnloses Warten, denn Godot kommt nicht, wird nicht kommen. Wir wissen das. Reines Nichts also. Dennoch kann man im Sinn einer Ästhetik des Spiels dieses Warten als einen Zweck in sich begreifen und mit Lust aufladen. Etwa in der Art, wie Maurice Blanchot es in Warten Vergessen dialogisiert: „‚Geschieht es?‘ – ‚Nein, es geschieht nicht.‘ – ‚Und doch ist etwas im Kommen.‘ – ‚Im Warten, das jegliche Ankunft verhält und beläßt.‘“ Klingt esoterisch, ist aber nicht dumm (➝ Hegel): sich einzurichten im Augenblick. Es kommt nicht auf Godot an. Ähnlich ist auch das spielerische Weiterdurchwursteln in Becketts Endspiel: „Nichts ist komischer als das Unglück“ (Wobei Nichts kein Eigenname ist). Lars HartmannHHegel Der Anfang von Hegels Wissenschaft der Logik ist wie ein Donnergrollen, das die Philosophie durchhallt: Reines Sein und reines Nichts sind dasselbe. „Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts.“ Die gleiche Denkbewegung findet sich beim Nichts: „Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist.“ Wie genial gedacht (➝ Odysseus), dieses Paradoxon: Da postuliert einer die Identität zweier Begriffe, die gegensätzlicher nicht sein können. Ein Ton im Denken, wie er aus tiefem Grund sich entwindet und wie er noch in Wagners wallendem Es-Dur-Akkord des Rheingoldes ertönt, wenn aus dem dumpfen Klang heraus der Rhein wogt. Eine Ursuppe oder, mit Benn gedichtet: „O daß wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. / Leben und Tod, Befruchten und Gebären / glitte aus unseren stummen Säften vor.“Mit Hegels Skandalon berühren wir die Grundfrage der Philosophie: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Diese Frage reicht bis in die Gegenwart hinein – etwa wenn der Philosoph Sartre sein Hauptwerk betitelt: Das Sein und das Nichts. Lars HartmannHorror Vacui Ob der Raum zwischen der Materie mit Leere oder Äther gefüllt sei, war lange Zeit eine zentrale Frage in der Philosophie. Die Äther-Verfechter um Aristoteles postulierten, Leere sei etwas grundsätzlich Widernatürliches; später wurde diese Position lateinisch als horror vacui bezeichnet und beschäftigte noch René Descartes. Selbst als 1644 bewiesen wurde, dass ein Vakuum existieren kann, ging die Diskussion weiter – heute weiß man, dass selbst ein Vakuum nicht komplett leer sein kann, weil es eine endliche Energiedichte hat.Und in der Kunst? Perserteppiche, illuminierte Handschriften, viktorianische Tapeten, Buchillustrationen, Kupferstiche, Art brut, psychedelische Poster: Sie sind bis zum letzten Zipfel mit Farbe und Ornamenten gefüllte Flächen und gelten im modernen Kunstverständnis gewissermaßen als unzeitgemäß (➝ Schweigen). Das Gleiche in der Werbung: Wer zahlungskräftige, distinguierte Kundschaft anlocken will, kommt minimalistisch daher und platziert das Produkt zur größtmöglichen Geltung ohne viel Drumherum. Sophie ElmenthalerLLangeweile Unerträglich war sie in der Kindheit, heute ist sie für mich ein großer Luxus. Das Bewusstsein ist in sich selbst unruhig, Störungen sind der Normalfall. Langeweile ist für das Bewusstsein die Irritation, dass Irritationen ausbleiben. Aus Sicht der Philosophen ist die Langeweile eine der zentralen Erfahrungen, ohne die der Mensch sein eigenes Sein nicht erkennen kann. Soll heißen: Ein Kind, das nie gelernt hat, seine Langeweile zu überwinden, weiß auch als Erwachsener nicht, was es mit sich anfangen soll (➝ Anfang). Elke AllensteinMMusik „Eine Perfomance“ kündigt die Stimme aus dem Off an, bevor William Marx, ein kleiner Herr in adrettem Frack, die Bühne betritt. Er nimmt am Piano Platz und wirft einen letzten Blick auf die Partitur, bevor er zur Stoppuhr greift, den Deckel schließt – und nichts spielt. 4’33’’ ist John Cages bekanntestes Stück, obwohl (oder gerade weil) in den viereinhalb Minuten keine einzige Note gespielt wird (➝ Godot). Die Idee kam Cage, als er in einem schalltoten Raum den Ton seines Nervensystems und Blutkreislaufs hörte. Bis heute wirft 4’33’’ Fragen auf: Ist das Stück Stille oder Geräuschkulisse? Was ist die Aufgabe des Musikers? Wann ist Musik Musik? 2010 schaffte es 4’33’’ in die englischen Charts – als Kritik an der Castingshow The X Factor. Simon SchaffhöferOOdysseus Der Listenreiche, so lautet der Beiname des Odysseus, aber genauso korrespondiert mit dem Namen der Niemand – ein Wortspiel mit dem griechischen outis. Geschick und Geschichte hängen am Namen. Die rechte Wahl kann eine Entscheidung auf Leben und Tod bedeuten. So in jenem Erlebnis bei den Zyklopen, wohin Odysseus die Irrfahrt trieb: in die Höhle des Polyphem. Dieser verspeiste sechs der Gefährten des Odysseus, was dem griechischen Helden Anlass gab, möglichst bald die Flucht zu planen, da Zögern zum weiteren Verlust von Gefährten führen würde. Dem Missgebildeten rammte der Held einen glühenden Holzpflock ins Auge. Odysseus floh, der Zyklop schrie und rief die übrige Sippe herbei. Doch auf die Frage der anderen Zyklopen, was sei, rief Polyphem, dass „Niemand“ ihn geblendet habe, worauf jene schulterzuckend von dannen zogen. Herr Niemand war gerettet und ruderte davon. List des Namens. Weniger aus dem Nichts kam der Zorn Poseidons. Denn der Meeresgott war der Vater des Polyphem. Lars HartmannSSchweigen In vielen Philosophien des 20. Jahrhunderts ist das Schweigen eine Art Fluchtpunkt, es manifestiert eine Behelfslinie, hinter der das Denken aufhört und etwas anderes beginnt. Am Anfang seiner Karriere gelang es Jacques Derrida, mit Hilfe einer Denkform, die er Dekonstruktion nannte und die später gleichermaßen verehrt wie als Taschenspielertrick verhöhnt wurde, seinen früheren Lehrer Michel Foucault zu „widerlegen“.In seiner Kritik des Buches Wahnsinn und Gesellschaft geht es, sehr vereinfacht gesprochen, darum, dass Foucault unter Rückgriff auf Descartes eine unsachgemäße Trennung von Wahnsinn und Vernunft vorgenommen hätte; der Gegenstand, von dem gesprochen wurde, sei gewissermaßen schweigend vorausgesetzt worden (➝ Wichtig). Der Wahnsinn jedoch sei unbestimmt, er sei das Nichts, das der Sprache gegenüberstehe und das sich nur im Schweigen offenbare. Ludwig Wittgenstein wünschte sich hingegen in seinem Frühwerk, man hätte über solcherlei Fragen besser von Anfang an geschwiegen. Tilman MühlenbergTTaugenichts Dem einst Angebeteten schenkte sie die Reclam-Ausgabe Aus dem Leben eines Taugenichts, mit beigefügtem Brief. Sie hatte Joseph Freiherr von Eichendorffs Novelle von 1826 nicht gelesen, allein der Titel schien der Literaturstudentin trefflich für den Studenten der Philosophie mit dem unsteten Lebenswandel. Bei Wikipedia ist der Inhalt des spätromantischen Werks solide zusammengefasst, es geht um den Sohn des Müllers, der den fröhlichen Faulpelz eines Tages entnervt losschickt, sein Glück selbst zu suchen.„Und weil im ,Taugenichts‘ (…) das Helle, Heitere nie wirklich in Gefahr ist, ist alles aufgelöst in harmonische Bewegung, hellen Klang, glitzerndes Licht“ (➝ Zero), schrieb Franz Kugler im Jahr 1979 für die Zeit auf. Man findet seine Begeisterung für die erste Gammlergeschichte der deutschen Literatur immer noch online.Bei Wiki weiter unten findet sich die weiterführende Literatur: Otto Eberhardt stellt sich die Frage, ob Aurelie wirklich zunächst als verheiratete Gräfin gedacht gewesen sei, er bezieht sich auf eine These Karl Konrad Polheims. Auch Walpurga Freund-Spork hat sich tiefgehend mit dem Taugenichts befasst. Gunnar Och schrieb den Aufsatz Der Taugenichts und seine Leser. Anmerkungen zur Rezeption eines Kultbuches. Was Leute mit schönen Namen und schönen Flausen so schreiben, das taugt perfekt für eine sentimentale Reise für Taugenichtse. Katharina SchmitzWWichtig Das Nichts, die Abwesenheit von allem, beschäftigt Menschen jeden Alters. So auch den Schüler Pierre Anthon, eine der Hauptfiguren im 2000 erschienenen Jugendroman Nichts: Was im Leben wichtig ist der dänischen Autorin Janne Teller. Für ihn bedeutet Nichts das Fehlen jedweder Bedeutung im Leben (➝ Horror vacui). Diese Haltung wird zur fundamentalen Herausforderung für seine Klassenkameraden, die beschließen, ihn mit einem Berg der Bedeutung vom Gegenteil zu überzeugen. Die Einsätze werden immer höher, das Experiment gerät außer Kontrolle, ein Museum will für den Berg mehrere Millionen bezahlen, die Medien fallen darüber her – und verschwinden wieder. Wirkliche Bedeutung entsteht mit dem Berg nicht. Rasend vor Wut töten die Schüler den sie verhöhnenden Pierre Anthon schließlich.Der nihilistische Blick des Romans auf die Welt ging vielen zu weit. Nichts war zeitweise an dänischen Schulen verboten. Ein großer Erfolg war das Buch dennoch – auch in Deutschland, wo die Übersetzung 2010 erschien. Ob der Roman deswegen Bedeutung hatte, ist eine andere Frage. Benjamin KnödlerZZero Die Stunde null begann 1957 in Düsseldorf. Hier fand sich die Künstlergruppe ZERO zusammen: Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker. In diesen Jahren kreierte das Trio eine neue Avantgarde-Kunst (➝ Musik), die sich um das Ideal des „reinen Lichts“ drehte. Ihr Ziel war es, Licht und Bewegung zusammenzubringen, eine kinetische Lichtkunst zu entwickeln. Das Ende der Gruppe war furios: 1966 versenkten sie einen brennenden Wagen im Rhein. Mack beschrieb das so: „1966 fand ZERO ein positives Ende. Über tausend Menschen haben es in einer Nacht gefeiert. Ich selbst hatte mir dieses Ende gewünscht: ein Ende, das ich genauso befreiend fand wie den Anfang von ZERO.“ Marc Peschke
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