Oettingers Gespür für den richtigen Zeitpunkt

Krisenmanagement Ist es nicht gerechter, wenn es statt zwei Mehrwertsteuersätzen nur einen gibt? Wer so fragt, hofft, dass die entscheidenden Fragen in dieser Krise nicht gestellt werden

"Oettingers Gespür für den falschen Zeitpunkt" titelt heute eine Zeitung, um den Vorstoß des baden-württembergischen Ministerpräsidenten für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu charakterisieren. Nichts könnte falscher sein als dieser Titel. Man versteht ihn zwar leicht: Die Union spreche sich in ihrem Wahlprogramm für Steuersenkung aus, und nun fordere einer der ihren das Gegenteil, er zerstöre so die Glaubwürdigkeit der Partei. Doch in der dramatischen Wirtschaftskrise, die wir erleben, müssen die Parteistrategen Schlimmeres befürchten als nur die Zerstörung einer "Glaubwürdigkeit", die gar nicht vorhanden war und die offenbar auch nicht wichtig ist: Die Bürger, statt an die Parteien zu "glauben", üben sich bekanntlich in Parteienverdrossenheit und übergeben ihnen trotzdem Wahltag für Wahltag die Macht.

Und was könnte lachhafter sein als der Versuch, "Glaubwürdigkeit" ausgerechnet im Zusammenhang mit Mehrwertsteuern vorzugaukeln? Es ist doch erst drei Jahre her, dass Union und SPD ihre die Erhöhung betreffenden Versprechen krass brachen. Die Union hatte behauptet, sie wolle den regulären Satz von 16 auf 18 Prozent steigern, und nach dem bekundeten Willen der SPD sollte er bei 16 Prozent bleiben. Geeinigt hat man sich dann auf den "Kompromiss", ihn auf 19 Prozent zu erhöhen.

Steuer-Erhöhung in Sicht, alle Kraft voraus!

In Wahrheit hatte Oettinger ein so gutes "Gespür", dass man sich fragt, ob die Unions-Granden, auch die, die ihn jetzt öffentlich kritisieren, seinen Auftritt nicht geradezu abgesprochen haben könnten. Denn noch am Vortag hatte man Dinge in der Zeitung gelesen, die nun wirklich schlimm, dafür aber auch "glaubwürdig" waren: Es gebe Gerüchte über eine Mehrwertsteuer-Erhöhung, "Parteikreise" der Union versprächen sich davon Mehreinnahmen von 14 Milliarden Euro; Parteisprecher hätten die Gerüchte zwar zu dementieren versucht, doch alle Wirtschaftsweisen, zum Beispiel Wolfganz Franz, der Vorsitzende des Sachverständigenrats, sähen Steuererhöhungen als unausweichlich an, und Udo Ludwig vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle habe gesagt, die Regierung werde Einsparungen im Haushalt – er meinte offenbar den sozialstaatlichen Haushalt – schwer durchsetzen können, so dass sie wahrscheinlich stattdessen den Weg der Steuer-Erhöhung beschreite. Dies vor dem Hintergrund einer Rekord-Neuverschuldung von 47,6 Milliarden Euro in diesem und 86 Milliarden im kommenden Jahr, die, wie wir wissen, von der Rettung des "systemnotwendigen" Kapitals herrührt.

Mit anderen Worten, es drohte sich die Frage zu stellen, wer eigentlich die Zeche für die von unverantwortlichen Zockern verursachte Wirtschaftskrise bezahlen soll, diese Zocker selbst oder die gewöhnlichen Bürger sei's über Sozialstaatsabbau, sei's über Steuererhöhungen. Da trat nun Oettinger auf, nahm alle Schuld auf sich und erläuterte, dass er ganz andere Fragen stelle, nämlich wie dem Gaststättengewerbe geholfen werden könne und ob es nicht gerechter sei, wenn es statt zwei Mehrwertsteuersätzen nur einen gebe. Und von einer Erhöhung habe er ja gar nicht reden wollen. Und überhaupt – das sagte er nicht, aber das war die eigentliche Botschaft -: Es stellen sich keinerlei Fragen, wenn man von der äußerst brisanten Frage des Gaststättengewerbes einmal absieht, und es führt auch nicht weiter, über die Wirtschaftskrise nachzudenken, vielmehr soll man sich mit dem hochinteressanten Herrn Oettinger befassen.

Am Vortag hatte es allerdings geheißen, jene "Parteikreise" erwögen eine Angleichung der beiden Steuersätze bei 18 Prozent, und das läuft ja wohl auf eine kräftige Steigerung des Gesamtmehrwertsteueraufkommens hinaus, wenn man bedenkt, was alles bisher mit nur sieben Prozent besteuert wird: Nahrungsmittel, viele landwirtschaftliche Rohstoffe und Produktionsmittel, viele medizinische Geräte, dann Druckerzeugnisse, Eintrittskarten im Kultur- und Freizeitbereich, Nahverkehr und Kunst. Mit einem Wort, die Lebensmittel von Jedermann.

Wer die Fragen stellt, die die Leute so klug oder so blöd sind, zu beantworten, der hat die Hegemonie. Seien wir nicht so blöd, die Frage nach der Zukunft des Gaststättengewerbes zu beantworten; beantworten wir lieber die Frage, wer die Zeche für die vom Kapital verursachte Wirtschaftskrise bezahlen soll.



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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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