Orchideen für die lieben Kurden

Kommentar Die Türkei auf EU-Kurs

Bei den Bildern nach der Freilassung von Leyla Zana in Ankara fühlte man sich jüngst an Szenen vor zehn Jahren erinnert. Wie damals musste sich die kurdische Politikerin auch jetzt durch eine dichte Menschenmenge schieben und von etlichen Fernsehteams eskortieren lassen, als sie gemeinsam mit Hatip Dicle, Selim Sadak und Orhan Doga aus dem Ulucunlar-Gefängnis entlassen wurde. 1994 waren diese vier aus dem Parlament heraus verhaftet worden - angeblich wegen der "Unterstützung terroristischer Kräfte". Seinerzeit waren es keine jubelnden, sondern wütende Menschen, die gegen Leyla Zana hasserfüllte Parolen skandierten, weil sie es gewagt hatte, ihrem Eid als Abgeordnete des türkischen Parlaments einige Worte im verbotenen Kurdisch anzufügen. Nun konnten 50.000 in Ankara - unbehindert von den Behörden - einen Sieg für die Rechte der Kurden feiern.

Vorausgegangen waren Jahre eines zähen Ringens auf den Straßen und in den Parlamenten Europas - weniger eine Läuterung und ein wirklicher Sinneswandel der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Aber Premier Tayyip Erdogan darf auch für seine Kurdenpolitik den Nachweis "europäischer Standards" nicht schuldig bleiben. Demokratie, Bürger- und Minderheitenrechte fordert die EU, um trotz massiver Widerstände in einigen Mitgliedsstaaten den Aspiranten Türkei im Gespräch und in der Evaluierung zu halten. Das heißt, die Kurden sollen in Schulen und Medien ihre Sprache lernen und verwenden können. Es war daher kein Zufall, dass am Tag der Freilassung von Leyla Zana das Staatsfernsehen erstmals Programme in kurdischer Sprache ausstrahlte. Und es war gleichfalls kein Zufall, dass ein Gesetz, mit dem Radio- und Fernsehsendungen in anderen Sprachen als der türkischen ausdrücklich verlangt werden, das Parlament schon im Mai 2002 passierte, ohne dass es danach auch nur eine Sendeminute in Kurdisch gegeben hätte.

Trotz der erkennbar taktischen Manöver der Regierung Erdogan in Sachen Kurdenpolitik waren sich die Grünen-Vorsitzende Beer, das Auswärtige Amt und führende Europapolitiker einig: Die neuen Formen im Umgang mit dem kurdischen Mitbürger seien für die Türkei ein Zeichen der politischen Reife. Kein Wort verlor man in Berlin oder Brüssel über die andauernde Folter in diesem Land, über kurdische Flüchtlingslager oder den wieder aufgeflammten Krieg gegen die PKK-Nachfolgerin Kongra-Gel. Deren militärischer Arm hatte "nach den andauernden Auslöschungsoperationen der türkischen Armee" im Juni die fünfjährige Waffenruhe aufgekündigt. Damit wurde klar: Es geht in der Türkei nicht um vier Abgeordnete. Es geht um fortgesetzte Repressionen gegen die kurdische Minderheit. Es geht um Tausende von politischen Gefangenen, die noch von den gefürchteten Staatssicherheitsgerichten verurteilt wurden. Es geht um das vorsätzliche Schweigen der Europäischen Union.


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