Otfried Preußler von A bis Z: Von freundlichen Wassermännern, Hexen und Gespenstern
Lexikon Am 20. Oktober wäre er 100 Jahre alt geworden: Otfried Preußlers Kinderbücher, populär wie nie, wurden verfilmt und inszeniert. Als "Der kleine Wassermann" stand einst der "Freitag"-Theaterkritiker selbst auf der Bühne. Unser Wochenlexikon
Grusel zum Schmunzeln: Den Räuber Hotzenplotz kennt – zumindest im deutschsprachigen Raum – jedes Kind
Foto: Georg Göbel/dpa
A
wie Altgeselle
Zu den prägendsten Lektüren meines Lebens gehört Otfried Preußlers Roman Krabat. Er war damals Lesestoff der sechsten Klasse, und einer der Gründe, warum diese umwerfende Coming-of-Age-Geschichte im Gewand einer sorbischen Volkssage einen besonders bleibenden Eindruck hinterließ, war unser Deutschlehrer. In seiner explosiven Mischung aus charismatischer Führung und schwarzer Pädagogik schien sich der Kampf von Gut und Böse zwischen dem finsteren Hexenmüllermeister und den jedes Jahr nachrückenden Altgesellen aus dem Buch in ein und derselben realen Person zu verkörpern. Er gab seinen Lieblingsschülern Spitznamen aus dem Roman, aber eben nur denen. Sie behandelte er wie kleine Erwachsene, lebte selbst aber mit M
hsene, lebte selbst aber mit Mitte 50 noch bei seiner Mutter. Auf Klassenfahrt lenkte er nachts die anderen Lehrer ab, damit wir heimlich in die Mädchenzimmer schleichen konnten. Wer Glück hatte, konnte von ihm etwas fürs Leben lernen. Wie von Preußlers Krabat. Tom WohlfarthGwie Großmutter DoraOtfried Preußler wird mit den Mythen, Sagen und Bräuchen gewissermaßen leibhaftig vertraut gemacht, nämlich durch die Großmutter, die die Geschichten übermittelt. Das Besondere der Erzählungen, vor allem eben der Großmutter Dora, besteht in ihrer Mündlichkeit. Um diese Spezifik zu verschleiern, macht die Großmutter den Kindern weis, dass alles, was sie erzählt, aus einem dicken alten Geschichtenbuch stammt. Zunehmend aber irritiert die beiden Jungen, Otfried und seinen Bruder Wolfhart, dass eine Geschichte, die besonderen Gefallen fand, bei ihrer Wiederholung „einen völlig veränderten Lauf nahm und neuen, ganz unterwarteten Nebenfiguren und Dingen sich zuwandte ...“. Auf die dringlicher werdende Frage der Kinder nach dem Verbleib des Geschichtenbuches findet die Großmutter immer neue Ausreden. Carsten Gansel Hwie HauptrolleManchmal hat man schon als Kind ein gutes Gespür dafür, wohin es im Leben gehen soll. So zögerte ich nicht, als ich die Gelegenheit bekam, Theater zu spielen. Gemeinsam mit einigen anderen Kindern spielten wir die Wurzelkinder (ich war die Distel) und später die Häschenschule (ich war ein Häschen). Bald war ich auf dem besten Weg, ein Star zu werden: Ich spielte die Titelrolle in Otfried Preußlers Der kleine Wassermann (→ Illustrationen). Es war eine anspruchsvolle Rolle. Ich fürchtete mich vor dem Neunauge, ritt rücklings auf dem Karpfen, drehte das Wehr so weit auf, dass der Bach überlief – und musste dabei immer wieder eine Leiter hoch- und runterklettern. Um das Schwimmen zu mimen, wurde ich sogar an einer Hängevorrichtung durch die Luft gehoben. Der Einsatz lohnte sich, ich bekam sogar Fanpost von begeisterten Kindern. Im Gegensatz zu dem Klassenkameraden, der bei den Wurzelkindern den Käfer spielte, wurde ich zwar nicht Schauspieler. Aber immerhin Kritiker. Leander F. BaduraIwie IllustrationenSeine Kinder- und Jugendbücher bleiben in Erinnerung – auch wegen ihrer ikonischen Illustrationen. Der kleine Wassermann (→ Hauptrolle), Die kleine Hexe, Der Räuber Hotzenplotz, Das kleine Gespenst oder auch Krabat – wir denken sofort auch an die Bilder aus diesen Werken. Bekannt wurden die feinen Hexen- und Wassermann-Zeichnungen von Winnie Gebhardt sowie die Hotzenplotz-Illustrationen von Franz Josef Tripp, die von Mathias Weber später nachkoloriert wurden. Es ist eine fantastische Bildwelt: Hotzenplotz etwa, dieser abgerissene Räuber mit den sieben Dolchen im Gürtel. Noch heute erscheinen viele der Werke Preußlers mit den Bildern der Erstausgaben: Es sind Klassiker der Illustrationskunst. Und schließlich war Preußler selbst ein hervorragender Illustrator, wie seine Originalzeichnungen des Hutzelmanns Hörbe zeigen. Marc PeschkeJwie JelabugaJelabuga, das zur russischen autonomen Republik Tatarstan gehört, lässt an die Lyrikerin Marina Zwetajewa denken, die dort 1941 die letzten Tage ihres Lebens verbrachte, bevor sie Suizid beging. Aber es gab auch das sowjetische „Kriegsgefangenenlager 97“, wo Otfried Preußler 1944 eingeliefert wurde. Da war er nur noch „Haut und Knochen“ – „Dystrophie“ wurde im Lazarett festgestellt, chronische Unterernährung, die zu Depressionen und Gedächtnisschwund führen kann. Dabei hatte er, 1942 zum Militärdienst eingezogen, bald eine Kompanie befehligt und an einen deutschen Sieg geglaubt. Wie viele andere empfand er sich als Opfer der Verhältnisse. Ein blutjunger Kerl, der nun fünf Jahre eingesperrt war und Zwangsarbeit zu leisten hatte. Geistigen Freiraum suchte er, indem er Gedichte (→ Prager Sonette) und Theaterstücke schrieb. Wenn er zunächst Bilder einer glücklichen Kindheit beschwor und allerlei Zauberwesen schuf, hat das auch der eigenen geistigen Gesundung gedient. Irmtraud GutschkeKwie KindergartenSie gehören zu meiner Kindheit wie die erste italienische Eisdiele, die meine Mutter mit mir manchmal ansteuerte, wenn sie mich, oft als Letzte, aus dem Kindergarten abholte. Das war nach dem Mittagsschlaf, in den uns Der Räuber Hotzenplotz oder Die kleine Hexe begleiteten. Wir Älteren liebten den Grusel, doch bei den Kleinsten rollte schon mal eine Träne, und die Nonnen führten in der katholischen Einrichtung ein strenges Regiment. Einige waren aber auch brillante Vorleserinnen. Sie imitierten, wie Hotzenplotz der Großmutter die Kaffeemühle entreißt oder die kleine Hexe auf ihrem Besen zum Blocksberg fliegt und unerlaubt feiert. Erst viel später verstanden wir die „weiße Magie“, der sich Preußler verschrieben hatte, und den Schrecken in Krabat. Und wer hätte gedacht, dass wir einmal eine feministische Walpurgisnacht feiern würden. Ulrike BaureithelPwie Prager SonettePreußler, der als Otfried Syrowatka 1923 in Liberec, in der ehemaligen Tschechoslowakei zur Welt kam, hat als siebzehnjähriger Oberschüler mit dem Schreiben von Gedichten begonnen. Ab Herbst 1940 entstehen zahlreiche Gedichte für seine Tanzschulpartnerin Annelies Kind. Später wird er sich mit ihr verloben, und als er aus 1949 aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, heiratet er „sein Mädchen“, wie er später sagt. Zum Komplex der Gedichte gehören auch die Prager Sonette. Die Sonette haben den jungen Mann gelehrt, „strengen formalen Gesetzen zu entsprechen, mich meiner sprachlichen Mittel mit äußerster Sorgfalt zu bedienen“, so erinnert Otfried Preußler Jahrzehnte später. Eines der unveröffentlichten Gedichte trägt den Namen St. Veitsdom in Prag und ist um 1940/41 entstanden. Offensichtlich sind die Traditionen, in denen er steht, nämlich Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann, mithin dem, was vor 1933 als „Magischer Realismus“ gilt, eine Kunstströmung, in der es zu einer Verschmelzung von „wirklicher Wirklichkeit“ (Anna Seghers) und einer magischen Realität kommt. Carsten GanselSwie SpracheEinmal mit ihrem Besen den Blocksberg umrunden, das ist der Traum der kleinen Hexe (→ Kindergarten). Zuvor aber trifft sie eine Faschingstruppe, in der sich verkleidete Schreckgestalten wie Menschenfresser und Messerwerfer tummeln. Letztere zogen erst in die Neuauflage der kleinen Hexe von 2013 ein. Sie ersetzten das N-Wort und lösten eine heftige Debatte über diskriminierende Sprache aus, zu deren Tiefpunkt Moderator Denis Scheck mit Blackfacing im TV auftrat. Es ging um Schutz des Originals und Meinungsfreiheit. Gefragt wurde nicht: Soll sich ein Kind heute vor dunkler Hautfarbe fürchten? Der Verlag und Preußler wollten das nicht. Ohnehin hatte der Autor immer wieder in die angeblich heiligen Texte eingegriffen, Worte wie Muhme zur Tante modernisiert. Über die 69 anderen Änderungen in der Neuauflage gab es keinen Aufschrei. Tobias PrüwerTwie TraumataAls Otfried Preußler sein Romanfragment Bessarabischer Sommer Mitte der 1980er Jahre schreibt, ist er Mitte 60. Erst jetzt beginnt er, sich dem Trauma von Krieg und Gefangenschaft über eine realistische Darstellung zu nähern. Eingesetzt hat der Versuch aber bereits Ende der 1950er Jahre, als er mit dem „Krabat-Projekt“ anfängt. Bereits damals sind vor seinem geistigen Auge die Erinnerungen an den Krieg und die sowjetischen Kriegsgefangenenlager von → Jelabuga und Kasan aufgetaucht. Aber sich schreibend den Schicksalen von Freunden zu nähern und literarisch zu erfassen, auf welch grausame Weise sie im Zweiten Weltkrieg gestorben sind, das ist etwas anderes. Das wird Otfried Preußler erst im höheren Alter versuchen. Nunmehr wird das „kleine kreisrunde rote Loch in der Stirn, der aufgerissene Leib, die klaffende Wunde am Hals“ des Freundes in der Erinnerung aufscheinen. Otfried Preußler gibt an, er habe die toten Freunde weder herbeigerufen, noch hätten sie sich aufgedrängt. Vielmehr habe es eine lange Scheu gegeben, „von ihnen zu reden, an sie zu denken“. Carsten GanselZwie ZeitumstellungDas kleine Gespenst (aus dem Jahr 1966) muss die Folgen der Zeitumstellung am eigenen federleichten Gespensterleib erfahren. Als die Eulenburger Turmuhr, nach der es getaktet ist, repariert und zwölf Stunden angehalten wird, wacht es zum falschen Zwölf-Uhr-Glockenschlag auf, nicht um Mitternacht, sondern mittags. Es wird schwarz vom Sonnenlicht, bleischwer und bekommt grausliche Kopfschmerzen. Es macht eine Menge Unfug und ist todunglücklich über die unfreiwillige Verwandlung. Ich muss jedes Mal bei der Umstellung von der Winter- auf die Sommerzeit an das kleine Gespenst denken, wenn ich Kopfschmerzen, Müdigkeit und Hunger zur falschen Zeit an mir bemerke. Leider stellt sich anders als beim Gespenst beim erneuten Umstellen der Uhr keine Erleichterung ein, geht stattdessen der ganze Zinnober von vorne los. Beate Tröger
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