Papa! Erzähl mal

Musik Eine Schallplattensammlung ist ein Prestigeobjekt, anders verhält es sich mit den CDs in unseren Regalen. Die Geschichte eines komplizierten Abschieds
Ausgabe 21/2016

Zu verkaufen. 937 CDs. Außer Gebrauch. Selbst Ernest Hemingway hätte die Geschichte, die sich hinter diesen drei Sätzen verbirgt, eine Träne abgerungen. Ihr Schauplatz war mein Wohnzimmer. Es war Zeit, sich von den Alben, EPs und Singles zu trennen, die sich in meinem bisherigen Leben angesammelt hatten. Manche hatte ich durch alle meine Wohnungen geschleppt, wo viele dann einfach nur in ihren Hüllen saßen und sich fragten, ob ich je eine Wohnung mit Zentralheizung finden würde.

Meine Frau erwartet unser erstes Kind und hat mir freundlich zu verstehen gegeben, dass Platz und Bargeld in Zukunft wichtiger sind als das zweite Album der Soledad Brothers. Ich fand kein stichhaltiges Gegenargument. Als iPods und Hard-Drives in mein Leben traten, rückte die CD-Wand in den Hintergrund. Seit Spotify und Sonos habe ich sie kaum mehr angerührt.

Trotzdem: Es waren meine CDs. Angeknackste Plastikhüllen voller Magie und Erinnerungen. Ich reichte bei meiner Frau ein Last-Minute-Gesuch ein. Was war mit den Geschichten, die diese Hüllen bewahrten? Alles, was sie dazu sagte, war: „Kein Mensch braucht das Debütalbum von Hot Hot Heat. Schon gar nicht zweimal.“

Wie Einwegkugelschreiber

So begann also die Sichtung. 35 Regalreihen galt es auf zehn zu reduzieren. Ich stellte alle Beatles- neben alle Cribs-Alben. Eine Reihe war voll. Ich wusste, dass ich rechtfertigen konnte, alles zu behalten, was die größte Band der Welt jemals veröffentlicht hatte – aber was war mit den Beatles? Blieb für sie noch Platz? Klare Regeln waren die größte Herausforderung. Mit Ausnahme einiger Skurrilitäten, die es nicht auf Spotify gibt, würde ich keine dieser CDs je wieder benutzen. Einerseits schien es mir pervers, Klassiker wie Dylan oder Springsteen auszurangieren, andererseits hatte ich mich nie wirklich in sie verliebt. Also weg damit – zusammen mit den Adele- und Elbow-Alben, die ich im Vorbeigehen wie Einwegkugelschreiber gekauft hatte.

Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Platten, mit denen ich echte Erinnerungen verbinde – CDs, die ich als Teenager unrettbar zerkratzt habe, oder Alben von Bands, die ich während meiner frühen Tage als Musikjournalist für den NME interviewt habe. Eines Tages werde ich in einem schweren Ledersessel sitzen und sie meinem Kind zeigen. Je länger ich darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien mir, dass es dann sagen würde: „Papa! Erzähl mir bitte noch einmal, wie du die Moving Units backstage in der Highbury Garage getroffen hast!“

Vielleicht, dachte ich, sollte ich auf rein ornamentaler Basis entscheiden. Ich konzentrierte mich also eine Weile auf CDs, deren Cover gut aussahen oder mich als coolen Kenner auswiesen. Aber es gelang mir nicht, Compilations von niederländischen Cold-Wave-Acts neben den Soloalben ehemaliger Can-Mitglieder aufzureihen, ohne mich wie ein Hochstapler zu fühlen – oder, schlimmer noch, wie der Ladendekorateur bei Urban Outfitters. Und was war mit den Sachen, die einfach nur bizarr waren? Wer kann schon von sich sagen, dass ihm Jonathan King eine Platte aus dem Gefängnis geschickt hat, zusammen mit einer Notiz, er habe sich nie an Kindern vergangen. Sollte ich die behalten?

Am Ende habe ich umständlich einen Mischmasch erstellt – ein paar coole Alben, einige kunstvolle Cover, Sachen, die mir zu kanonisch erschienen, um sie zu verkaufen, und ein paar, mit denen ich persönliche Erinnerungen verbinde. Stellte ich mir so meine neue Plattensammlung vor? Alle Beach-Boys-Alben neben einer Promo von den Long Blondes und einer CD, auf deren Cover ausgestopfte Katzen eine Teegesellschaft abhalten? Nicht wirklich, aber da klopfte auch schon der CD-Mann.

Der Händler setzte mich trocken darüber in Kenntnis, dass meine Alben leider nicht gealtert waren wie ein guter Margaux. 700 Pfund könne er mir bezahlen. Mit wenig Sinn fürs Sentimentale versuchte er, mir den Abschied zu erleichtern: „Wenn Sie noch fünf Jahre gewartet hätten, müssten Sie mich dafür bezahlen, dass ich sie mitnehme.“ Ich sah ihm dabei zu, wie er meine Erinnerungen in Kisten packte, und half ihm, sie in seinen Wagen zu tragen. Wohin würden sie jetzt kommen? Der Mann sagte, er habe keine Ahnung, wer so etwas kaufe. Vielleicht war ja auch alles für ihn – vielleicht hatte er nur deshalb einen Second-Hand-CD-Handel eröffnet, um an das zweite Album der Soledad Brothers zu kommen. Na ja, eher unwahrscheinlich. Allerdings nicht unwahrscheinlicher, als dass 2016 irgendwo zwei Menschen existieren, die beide den Drang verspüren, das Debütalbum von Hot Hot Heat auf CD zu erwerben.

Als der CD-Mann wegfuhr, überlegte ich einen Moment, ob ich mich ihm vor den Wagen werfen und schreien sollte: „Ein Leben ohne Faded Seaside Glamour von den Delays ist nicht lebenswert!“ Aber in Wahrheit empfand ich herzlich wenig … außer ein wenig Erleichterung. Zurück in der Wohnung besah ich mir meine neue, windschnittige Sammlung. Ohne den ganzen Ballast fühlte sie sich tatsächlich wieder wie meine an. Ich hatte meine Plattensammlung nicht verkauft, ich hatte sie in etwas Persönliches zurückverwandelt.

Tim Jonze, 36, schrieb für den New Musical Express und war Redakteur von Dazed and Confused. Er ist Online-Musikchef des Guardian

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