Pegasus

A–Z Aus dem antiken Sinnbild für die Dichtkunst ist eine Metapher für Spionage geworden. Warum inspiriert das Flügelpferd noch heute Kinder, Filmemacher, Philosophen?
Ausgabe 37/2021

A

Airline Den Menschen überfällt immer wieder eine Hybris des Unsterblichkeitsgefühls. Beim planmäßigen Pegasus-Airlines-Flug 2193 von Izmir nach Istanbul führte das in eine eigentlich vermeidbare Katastrophe: den „runway overshoot“. Bei schlechtem Wetter wurde trotz zu starken Windes viel zu spät auf der regennassen Landebahn aufgesetzt. Das Flugzeug zerbarst. Drei Tote, 19 Schwerverletzte. Schon seit die Lufthansa 1993 in Warschau Ähnliches erlebte, müsste jedem Piloten klar sein, dass Durchstarten die einzige Option ist. Doch der Mensch ist kein rationales Wesen und der Kopf voller „biases“, sprich kognitiver Verzerrungen. So ist das Festhalten an der Landung trotz veränderter Situation ein klassischer sogenannter „belief perseverance“, neue Erkenntnisse werden ausgeblendet, es wird an der ersten These festgehalten – bis ins kollektive Verderben. Jan C. Behmann

D

Dichterross Es kann feurig schnauben oder ist nichts als ein Vehikel für triviale Kaffeetischpoeten. Die Quälerei mit dem widerspenstigen Fabeltier hat Peter Rühmkorf (1929 – 2008) in seinem Tagebuch TABU I fast beschwörend beschrieben: „Dass ich pro Gedichtseite etwa 100 bis 170 DIN-A4 Seiten Vorlauf veranschlagen muss, habe ich schon öfter erwähnt, es hat mir nicht unbedingt Lob eingetragen.“ Nur so gelänge ihm der immer neue Kampf um den „Trugschluss“ des Gedichts, wie er es sowohl passioniert als auch desillusioniert nennt. Noch eine Maxime hat er verkündet: „In einem guten Gedicht darf man zwischen Himmelsplankton und Erdenstoff nicht mehr unterscheiden können.“ Ein Parforceritt über hohe Hürden. Manche dichtenden Zeitgenossen allerdings hat er im Verdacht, die Mühen zu scheuen. Viele hält er eher für hochtrabend als beflügelt. In seinem Buch Funken fliegen zwischen Hut und Schuh hat er manch lästernde Worte für sie. Kollegenschelte als Heu fürs eigene Pferdchen? Magda Geisler

F

Flügel „Des Menschen Flügel ist das Pferd“, lautet ein Sprichwort aus Kirgistan. Die Hirten dort sind ja auf ihre Reittiere angewiesen, verbringen die meiste Zeit im Sattel, allein mit ihrer Herde inmitten der Berge und Steppen. Welche Bindung da zwischen Mensch und Tier entsteht, in seinem Roman Abschied von Gülsary hat es der Kirgise Tschingis Aitmatow beschrieben. Wie die Griechen ihren Pegasus hatten auch die Turkvölker Mittelasiens ihr geflügeltes Pferd.Tulpar kam der Legende nach vom Himmel, machte seine Flügel unsichtbar und paarte sich mit den Stuten. Besonders edle Rösser zählte man dann zu Tulpars Geschlecht. Wir Menschen, gebunden an die Erde, tragen doch den Traum vom Fliegen in uns ( Kinderträume), der nicht nur etwas Technisches meint.

Emporgetragen zu werden auf den Flügeln der Poesie oder des Gesangs, sich durch Liebe beflügeln zu lassen, ist eine Sehnsucht, überall. So wundert es nicht, dass Pegasus in bester multikultureller Gesellschaft ist: mit Buraq aus arabischer Überlieferung, dem Windpferd aus der tibetischen Mythologie oder Sleipnir, mit dem der nordische Gott Odin zur Erde flog. Ein geflügeltes Pferd findet sich auch auf dem Staatswappen der Mongolei. Irmtraud Gutschke

K

Kinderträume Ein Junge mit der Rüstung eines Pegasus muss die Göttin Athena retten, Prüfungen bestehen und den anderen Jungen mit der goldenen Rüstung besiegen. Wenn I cavalieri dello zodiaco lief (englisch: Saint Seiya), hockte ich zu Hause in Italien vor dem Fernseher. Und wollte dieser Pegasus-Junge sein. Die japanische Zeichentrickserie war aus einem Manga entstanden. Ich baute die Rüstung nach und kaufte mir eine Spielzeugfigur als Vorbild. Heute werde ich durch meine 5-jährige Tocher an diesen und andere Anime-Hits der 1980er mit Ken Schiro und Kapitan Tsubasa erinnert. Aber ihr Pegasus ist lila, hat weiße ➝ Flügel, die golden glitzern. Einmal wurde sie morgens wach: „Ich habe geträumt, dass ich fliegen kann“, sagte sie. Pegasus ist zeitlos, das hat Netflix natürlich erkannt und 2019 eine moderne Fassung von Saint Seiya veröffentlicht. Paolo Rossi

Kunst Der Pegasus, das geflügelte Pferd, wurde schon in der Antike immer wieder dargestellt, auf Vasen, Mosaiken oder Münzen findet man das Sinnbild der Dichtkunst, bei Walt Disney, am Giebel des Bayerischen Nationaltheaters in München – oder auch in der Grafik der 1970er-Jahre. Eine besonders schöne Pegasus-Darstellung fertigte Dieter Roth 1972. Man kann die Kaltnadelradierung noch heute erwerben. Das Werk des 1998 verstorbenen Schweizers ist eine Wiederentdeckung wert (der Freitag 30/2021): Happening, Fluxus, Eat Art, Dada, Dichtung, „Literaturwürste“ und „Schimmelbilder“. Warum Roth einen geflügelten Pegasus zeichnete? Vielleicht, weil ihm ein fliegendes Pferd sympathisch war, das imstande ist, die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben. Marc Peschke

M

Mythos Die Bronzeplastik Perseus in Florenz, 1554 enthüllt, gilt als Hauptwerk Benvenuto Cellinis. Dass der mythische Held das schlangenbedeckte, eben abgetrennte Haupt der Medusa wie eine schlimme Laterne nach oben hält, als zeige er ihn einer Menschenmenge, weist das Werk als Machtdemonstration des damaligen Stadtherrschers Cosimo I. de’ Medici aus. Wir schauen mit Perseus auf den Rumpf der Toten, aus dem Blut quillt: dass diesem, dem Mythos zufolge, Pegasus entspringt, ein fliegendes Pferd, ging die Bronzeplastik nichts an. Als hätte Bellini ein Sinnbild unserer eigenen Situation geschaffen: Damit wir die Macht des Staates begrüßen, zeigt er uns schlimme Feinde – dass er uns ausspioniert, sehen wir nicht. Michael Jäger

N

Nichtexistenz Der analytische Philosoph Willard Van Orman Quine führte anhand des Pegasus das Problem der Nichtexistenz vor Augen. In seiner einflussreichen Schrift Was es gibt widmet er sich der Frage gleich zu Beginn. Wir wissen, was das geflügelte Pferd ist, obwohl es dieses gar nicht gibt. Viel merkwürdiger ist der Umstand, so Quine, dass Pegasus existieren muss, bevor und damit man ihm die Existenz absprechen kann. Das ist widersprüchlich. Der Philosoph buchstabiert Theorien durch und zeigt, wie sie am Problem scheitern. Dann offeriert er seine eigene Lösung: Mit Hilfe der Kennzeichnungstheorie trennt er Namen und Existenz, heißt etwas „Pegasus“, dann nicht, weil es da ist, sondern weil es Adressat eines Attributs ist: Es „pegasiert“, so Quine. Wenn nichts pegasiert, ist auch Pegasus futsch. Das klingt albern oder so abgehoben wie ein fliegendes Pferd, will aber Lösung eines wichtigen philosophischen Problems sein. Ob das Ziel erreicht wird, diskutieren die Sprachphilosophen bis heute. Tobias Prüwer

T

Tricktechnik Der Film Kampf der Titanen setzte bei seinem Erscheinen 1981 Standards in der Tricktechnik. Im Zusammenschnitt griechischer Sagen zum Fantasy-Format wird eine Medusa mit Schlangenhaupt (Mythos) animiert, erstarrt ein Seeungeheuer zu Stein. Und natürlich erhebt sich Pegasus in die Lüfte. Rund 15 Millionen US-Dollar betrug das Budget. Die Sagenwesen wurden mit aufwendiger Stop-Motion-Technik bewegt, bei der die Figuren in sich leicht verändernden Einzelbildern aufgenommen werden. Diese etwas ruckelnden Bilder haben heute nostalgischen Charme. Damals war das wirklich beeindruckend, zumindest für das jüngere Ich des Autors, der staunend vor den Filmplakaten stand. Der Streifen lief 1985 sogar in der DDR, war aber altersbeschränkt und damit nichts für einen Zweitklässler mit Mythologiefaible ( Kinderträume). Ich durfte dann extra länger aufbleiben, als der Film später im Fernsehen lief. Und ging am nächsten Morgen todmüde, aber überglücklich in die Schule, erzählte von Perseus und dem fliegenden Pferd mit Flügeln. Tobias Prüwer

V

Vorgang Wie kam das Zauberpferd in die Akten des ostdeutschen Geheimdienstes? In den 1970er-Jahren treffen sich in Jena junge Dichter und Studierende zum „Arbeitskreis für Literatur und Lyrik“. Der Poet Lutz Rathenow veranstaltete den Lesezirkel zunächst bei sich zu Hause im Dachzimmer, später – gemeinsam mit Jürgen Fuchs – im staatlichen Kulturhaus Neulobeda. Einmal in der Woche kamen hier bis zu 30 Autoren zusammen, lasen eigene Werke und debattierten über Marx und die Welt. Jene, von der sie träumten. Sie wollten den Sozialismus nicht abschaffen, nur anders gestalten.

„Das Schreiben von Gedichten als Gegenwehr“, so nannte es Rathenow, „zu jener Trägheit, die sich die Stadt als Anzug überzogen hatte“. Im Salon verkehrten auch Maler, Bildhauer und oppositionelle Köpfe, manchmal kamen Robert Havemann, Reiner Kunze, Biermann. Die Treffen „staatsfeindlicher“ Bohemiens wurden von der Stasi überwacht ( Zero Days). 1976 lässt sich Stasi-Chef Erich Mielke mittels Telegramm persönlich über die Aktivitäten der Jungen Gemeinde in Jena unterrichten: „Durch die KD Jena wird vorgangsmäßig eine feindliche Gruppierung bearbeitet (Vorgang „Pegasus“)“. Weitere Veröffentlichungen von Produkten „dekadenter Lyrik“ sollten verhindert werden.Wundersam poetischer Deckname für einen Überwachungsvorgang. Das Wort könnte von gewissem Respekt zeugen, den die Stasi vor dem Berufsstand hatte – Pegasus ist schließlich das Dichterross. Maxi Leinkauf

W

Weiß Das geflügelte Pferd hat die Farbe des Lichts, in dem sich alle Farben sammeln. Weiß meint in unserer Kultur Reinheit, Unschuld, Vollkommenheit, Unsterblichkeit. Anderswo kann es Trauer und Tod symbolisieren. Pegasus aber wird gern aufsteigend vor blauem Himmel oder von Gischt umspült gezeigt. Schließlich ist er Kind des Meeresgottes Poseidon und der Gorgone Medusa. Ein Hufschlag, und es entspringt eine Quelle. Für eine mit Kraft gepaarte Leichtigkeit steht er, für Kreativität und Träume – und wird heute schamlos ausgebeutet: als Name einer türkischen Billig- ➝ Airline, einer Fahrradmarke, eines Spiele-Verlags, von Turnschuhen und nun noch einer Software, die sich hinterhältig ins Private schleicht. Mein Herz so weiß hieß ein großartiger Roman von Javier Marias über verborgene tödliche Macht. Der Titel bezog sich auf die Worte von Lady Macbeth nach dem Mord an Duncan, zu dem sie „lediglich“ angestiftet hat.Die Skrupellose – man stellt sie sich schwarz gewandet vor. Irmtraud Gutschke

Z

Zero Days Die alten Griechen mussten noch ein Holzpferd zusammenzimmern, um Abwehrmauern zu überwinden. Heute hat das Pferd Flügel bekommen. „Pegasus“ heißt die Spionagesoftware, die sogenannte Zero-Day-Schwachstellen ausnutzt – bis dato unbekannte Sicherheitslücken. Dadurch können die Kunden – Ermittlungs- und Regierungsbehörden aus Staaten wie Ungarn, Saudi-Arabien oder Mexiko, aber wohl auch das BKA – Smartphones umfassend ausspionieren, Nachrichten mitlesen oder sogar Mikro und Kamera heimlich einschalten. Auch Politiker:innen, Journalist:innen oder Aktivist:innen waren Ziele. Wir sollten uns dieser Spionage stets bewusst sein – siehe Troja. Benjamin Knödler

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