Ein Buch geht um im Theaterland, das seit einiger Zeit viele massiv in seinen Bann zieht. Begeisterte Kritiken hat das Werk eingeheimst. Ein hingerissener Joachim Meyerhoff, Schauspieler und Bestsellerautor, findet den Roman einfach nur „zum Niederknien“ und schreibt jetzt prompt an einem Drehbuch, mit dem der Stoff bald schon verfilmt werden soll. Von ihm höchstpersönlich. Für die Hauptrolle soll Anthony Hopkins angefragt werden.
Na? Gemeint ist der Theaterroman Sein oder Nichtsein von Klaus Pohl, ein fiktiv ausgeschmückter Probenbericht von Peter Zadeks Hamlet-Inszenierung, in der Angela Winkler (wir befinden uns im Jahr 1999) die Hauptrolle spielte. Ziemlich geniale Idee von Zadek damals, Hamlet mit einer Frau zu besetzen, weshalb das Ding auch umgehend mit dem Prädikat „legendär“ versehen wurde.
Klaus Pohl spielte damals den Horatio, und so wie dieser im Stück die Geschichte Hamlets nach dessen Tod in die Welt tragen sollte, so hat er es sich nun zum Auftrag gemacht, die alte, vermeintlich große Glanzzeit des deutschsprachigen Theaters noch einmal auferstehen zu lassen: mit dem „Regiegott Zadek“ (Originalzitat) und all den Schauspielgrößen wie Otto Sander, Uwe Bohm, Eva Mattes und dem Theaterstar Ulrich Wildgruber, der sich nach der Produktion das Leben nahm.
Nun sind Theaterromane eigentlich eine feine Sache. Sie werfen Licht auf den „organisierten Wahnsinn“ (Heiner Müller), der das Theater ist, und auch Sein oder Nichtsein fährt mit all den Geschichten auf, die sich hinter den Kulissen für gewöhnlich abspielen: Es wird gesoffen, bis der Arzt kommt; die Hauptdarstellerin rennt aus Angst vor der Rolle mehrmals davon und muss wieder eingefangen werden; Assistentinnen müssen dem gestressten Regisseur den Nacken massieren; die Leute sind kreuz und quer ineinander verliebt; der Regisseur brüllt, tobt, wütet; die Schauspieler*innen eitel, selbstgefällig, verzweifelt, betrunken, aber seelisch groß in ihrer Suche nach der Wahrheit auf der Bühne.
So weit, so bekannt, aber irgendwas hängt schief. Nicht nur, dass der Roman über weite Strecken unfassbar schlecht geschrieben ist, überladen mit Horrorvokabeln wie bildhübsch, jauchzend, mit Tau benetzt oder quietschvergnügt. Hier eine Szene im Auto, Zadek und die Assistentin: „Sie zog die Stöckelschuhe aus, die Strümpfe … Es knisterte, den Regisseur schien trotz aller Widrigkeiten dieses unverhofft kokette Spiel zu erfreuen. Er sah ihr verzückt zu, wie sie die Strümpfe von den Beinen streifte. Und wie sie barfuß ausstieg! Sie lief den Weg hinauf bis unter den Kastanienwald. Wie eine nackte Gazelle.“ What the …?
Vollkommen ungefiltert und aus der Zeit gefallen, als ob er die vergangenen Jahre unter einem Stein gelebt hätte, beschwört Klaus Pohl in romantischer „Verzückung“ ein altes Machtsystem, in dem Regisseur Zadek durch Psychoterror, permanente Erniedrigungen und Schikanen versucht, Magieder Bühne zu erzwingen, weil er eine „Jahrhundertinszenierung“ machen will, weil er eine „Vision“ hat. Und das soll ich mir nun bald im Kino ansehen? Woher auf einmal dieses liebevolle Interesse für Gestalten, die doch in jüngster Zeit mehrfach zu Fall gebracht wurden, weil ihr systematischer Machtmissbrauch endlich aufgedeckt wurde?
Nichts hat mich in letzter Zeit also mehr überrascht als die Begeisterung der Theaterszene für ausgerechnet diesen Roman, der, wenn man ihn ernst nehmen würde, ein Plädoyer ist für „Kunst von und mit Terror“. Aber vielleicht muss das auch einfach so sein: dass in unserer anstrengenden Ära der Transformation jeder erklärte Fortschritt den traurig-sentimentalen Blick zurück mit sich bringt. Und je länger man schaut, desto glänzender wird die Vergangenheit.
Kommentare 11
Harte Worte. Aber auch passende Worte?
Über "die Kunst von und mit Terror" möchte ich erst einmal gründlicher nachdenken.
Desweiteren darüber, ob hier überhaupt über Kunst geschrieben wurde - oder nur über den "systematischen Machtmissbrauch".
Auch, ob der etwas voreilig behauptete Fortschritt oft nur ein W o r t schritt ist, bei dem alles Historische und Erlebte vergessen, verleugnet und verdrängt wird.
Es geht, wie so oft in diesen Zeiten, mal wieder um Deutungs h o h e i t. Da kann der Kampf mit schwerem Geschütz garantiert werden ...
Redlichkeit in der Darstellung: Wildgruber war herzkrank und litt darunter, nicht mehr die körperlichen Darstellungsmöglichkeiten zu haben, die er in jüngeren Jahren hatte. Suizidgrund war nicht Zadeks Inszenierweise. Mit dem Regisseur hat er seit den siebziger Jahren gearbeitet. Und ja: Brecht war nicht kuschlig, Zadek war nicht kuschlig, Castorf ist nicht kuschlig.
wenn es die auf der Bühne zu kuschlig haben, dann wird es für die Zuschauer langweilig. Zadek war schon der Hammer. Lulu im Schauspielhaus unvergessen.
Niemand muß sich in die Kunstwelt begeben, mancher verirrt sich dahin. Aber die Kunstwelt ist ein wenig geschützter Raum, der seine Berechtigung und Qualifizierung im Verzicht von Sicherheitsgrenzen gewinnt, die dem alltäglichen Lebensraum gezogen sind. Selbstverständlich muß dieser Mut zum Riskanten und Wille zum ästhetischen Opfer freiwillig sein. Aber dann ist es die Voraussetzung von Kunst, genau darum lieben und brauchen wir sie.
Machtmissbrauch, sexuelle Belästigung, Mobbing aber auch Tarif- und Arbeitskämpfe, die Haushaltsdebatte im Stadtrat - ist das auch alles 'die Kunst' bzw. dieser unausweichlich wesenseigen?
Mir ist nicht bekannt, daß „Machtmissbrauch, sexuelle Belästigung, Mobbing“ gegenüber Künstlern freiwillig, also mit deren Einverständnis, geschehen. Die Tarif- und Arbeitskämpfe wiederum haben nichts mit der Kunst, sondern dem Beruf zu tun. Die Gesellschaft sollte sich nicht Kunst als schlechtestbezahlte Ware zulegen, sondern Kunst und Künstler als extrem wichtigen Pfeiler der Kultur betrachten, schätzen und für anständige Alimentierung sorgen.
Na, ich versteh' den Artikel so, dass ein Buch hinterfragt wird, das allzu leichtfertig mit den sozialen Schieflagen im Theaterbetrieb umgeht. Insofern wundere ich mich über Deinen Kommentar, der eben "nur" von der Kunst spricht.
Hat Zadek Schauspielerinnen vergewaltigt, das Engagement von sexuellen Diensten abhängig gemacht, Schauspieler mit bleibenden Schäden auf offener Bühne fertiggemacht und Leuten, die darum ausgestiegen sind oder sich beschwert haben, die weitere Karriere verbaut, usw? Wenn ja, ist das menschlich verachtenswert, juristisch relevant, künstlerisch destruktiv, verdient alle Kritik. Ist mir aber nicht bekannt und wird in der Rezension auch nicht behauptet, wenn auch angedeutet. Zadek war vielleicht ein tyrannischer, schroffer, launischer, niemanden, nicht einmal sich selbst schonender Berserker als Theateroberhaupt; zu beurteilen ist das allein am künstlerischen Output. Wer das mitmacht (sich antut), der handelt im Dienste der Kunst, der ist, wenn es gelingt, glücklich. Nicht jeder Regisseur ist ein so freundlicher Menschenführer wie der in Truffauts „amerikanischer Nacht“. Eine ähnlich schwierige Künstlerpersönlichkeit war Faßbinder. Wenn man mit Wehmut an die große Zeit dieses Regietheaters zurückdenkt, dann wegen solcher Ausnahmekünstler, von nostalgischer Verklärung kann keine Rede sein, man muß nur einmal eine heutige Produktion dem gegenüberstellen.
Und der Vorwurf des Machtsystems ist abgesehen von dem von mir oben konzedierten, wo es wirklich vor allem um Macht um der Macht willen geht, eine Konsequenz des verzwergenden, die Wahrheit in die Grenzen der politischen Korrektheit einsperrenden Zeitgeists.
"Hat Zadek Schauspielerinnen vergewaltigt, das Engagement von sexuellen Diensten abhängig gemacht, Schauspieler mit bleibenden Schäden auf offener Bühne fertiggemacht und Leuten, die darum ausgestiegen sind oder sich beschwert haben, die weitere Karriere verbaut, usw?"
Der Punkt der Autorin ist, dass ein bestimmtes "Machtsystem" im Theaterroman Pohls vollkommen unkritisch oder unhinterfragt wegkomme. Wie zutreffend das ist, weiß ich nicht vor der eigenen Lektüre des Buches und ob Zadek dort authentisch wegkommt, ebenso nicht. Aber ich fand/finde es eben auch nicht so passend, angesichts des eigentlichen Themas des Artikels über das System Kunst unter Auslassung seiner institutionalisierten Eigenheiten zu sprechen bzw. schreiben. Das ist eben mein Punkt des Hinterfragens.
Ich will nicht pedantisch sein, sondern nur verstehen. Welche wichtigen Eigenheiten, die der Artikel anspricht, habe ich denn ausgelassen? Daß der Regisseur der Organisator und insofern Herr über die Konkretisierung, Verlebendigung von Rollentexten ist? Daß, um mal zur Musik zu wechseln, der Dirigent zwar Anregungen seiner „Untertanen“ aufgreifen kann (und sollte, wenn sie gut sind), aber letztenendes bestimmen will/muß? Geht es hier um die platte Demokratisierung der Kunst? Oder um die Forderung, den launischen Despoten (in künstlerischen Fragen) durch den kuscheligen Übervater zu ersetzen. Ich glaube, Stein war ein auch menschlich allseits geliebter primus inter pares. Natürlich geht es auch so, aber nicht unbedingt besser.
Ist die zentrale Aussage des Textes nicht, daß hier einer beweihräuchert und verklärt wird, der es nicht verdient hat? Und das Regietheater eine überwundene historische Verirrung? Das besprochene Buch bzw Filmprojekt hat nicht die Organisationsprobleme von Schauspielhäusern zum Thema, sondern eine Person. Falls ersteres das Anliegen der Rezensentin war, hat sie ihr Thema verfehlt.
Ich habe das Buch nicht gelesen. Aber ich habe mir vor ein paar Wochen im Autoradio ein langes Gespräch zwischen dem Autor Pohl und einem Rundfunkredakteur angehört. Es ging um das Buch, natürlich. Undmir wurde klar, das würde ich niemals lesen! Bestärkt durch anbiedernde Fragen des Redakteurs erging und aalte sich Pohl in seinen Erinnerungen. Und war zugleich so erstaunlich unreflektiert. Grauenhaft. Es war wirklich - ich scheue dieses Wort sonst - das Gespräch zweier selbstgefälliger alter weißer Männer. Aber ach, so kulturvoll!
Vielleicht ist aber auch eifach der alte Westen gnatzig, dass es immer heißt, das DDR-Theater sei überragend gewesen. Jetzt kommen sie kurz vor ihrem Tod alle noch mal aus ihren Löchern, um zu sagen: Wir auch, wir auch!