Pseudo-Comeback

A–Z Mats Hummels ist zurück im DFB-Kader und selbst der Evergreen „In einem Nachtzug nach Paris“ wird neu aufgelegt. Aber waren sie alle je weg? Unser Lexikon
Ausgabe 23/2021

A

Anrufbeantworter (AB) Ein probater Apparat für die eigenen Distinktionsbemühungen, also zur Abgrenzung von anderen (Pop), war einmal der AB. Es konnte Stunden dauern, bis man einen austariert originellen, gleichzeitig seriösen Text, der alle Zielgruppen abdeckte (potenzieller Arbeitgeber oder Geliebter), mit dem passenden Timbre (lässige Stimmlage, nicht zu lässig) drauf hatte. Wie sehr der Drang nach solch Individualität inzwischen ausgeufert ist, kann man bei Andreas Reckwitz’ Die Gesellschaft der SingularitätenZur Kulturalisierung des Sozialen aus dem Jahr 2018 nachlesen.

Der AB war nie weg, es kam die Mailbox. Und was mich bei jungen Leuten zuerst zutiefst befremdete – im Gehen eine Sprachnachricht ins waagerecht gehaltene Handy „labern“ statt direkt zu kommunizieren – mache ich inzwischen (dosiert) selbst, ich spreche quasi wie einst jemandem „aufs Band“. Katharina Schmitz

B

Betonriesen Oft dienen sie als Hintergrundbild, wenn es um Nachrichten aus dem Osten geht. Öde und Einfallslosigkeit sollen sie transportieren – die Plattenbauten. Sie waren lange kein Thema, sondern nur ein Stichwort, das die „richtigen“ Bilder hervorrief. Schon seit geraumer Zeit aber ist ein Comeback im Anmarsch. Es wird daran erinnert, dass immerhin der berühmte Walter Gropius mit seiner Idee der „Baukästen im Großen“ der Vater der „Platte“ war. Schon sind Architekten und Bauwesen am Ball, sowohl was Image als auch Innovationen zu mehr Vielfalt in der industriellen Vorfertigung betrifft. In Zeiten der Wohnungsknappheit geht es – wie einst in der DDR – um schnelles Bauen. Es ändert sich auch der Zeitgeist. Die Gesellschaft wandelt sich sehr langsam wieder weg von der Jagd nach Einzigartigkeit hin zu mehr Gemeinschaft. Die Akzeptanz für die Platte wird wieder größer, wenn preiswerte Quartiere das Resultat sind oder – für Investoren – Betongold (Gemeinwesen). Magda Geisler

C

Cruisen Sind Trends nicht nur ein Narrativ? Nur die individuelle Rezeption bestimmt die Deutung durch die Wahrnehmungsintensität für die als breit definierte Masse. „Pseudo-“ könnte das neue allumfassend-obligate Präfix der deklarierten Existenzen sein. Es ist so wie mit der Scheiße. Sie schwimmt im Wasser immer oben. Das gleiche gilt auch für Kreuzfahrtschiffe, die völlig sinnfrei CO2 in unser aller Atmosphäre pusten. Menschen mit schlechtem Geschmack und der masochistischen Liebe nach totalitärer Fremdbestimmtheit gehen seit postmodernem Menschengedenken auf diese stampfenden Metallkonstrukte, um das Gegenteil der Tatsächlichkeit zu erleben: Freiheit. Es ist kein Comeback einer Reiseart. Es ist der konstante Schnelltest für Selbstbestimmtheit. Aus einer stilvollen Art des Reisens ist seit Jahrzehnten eine verkitschte Instantform der Weltflucht mit simulierten Fremdresonanzräumen geworden. Fliehen vor allem, am meisten, vor sich selbst. An der literarischen Verarbeitung von diesen „Urlauben“ haben sich einige versucht, doch das stille Wutpapier gegen Kreuzfahrten hat David Foster Wallace geschrieben: Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich. Nothing to add, seliger David, sage ich und liege auf meinem Balkon. Ich, die lebende Gehwegplatte. Jan C. Behmann

G

Gemeinwesen „Die Schwächsten zu schützen ist unser erstes Ziel“, sagte Jens Spahn im Dezember 2020. Und Angela Merkel mahnte zu einem „ruhigen“ Osterfest um der Pflegekräfte willen. „Wir werden das Virus gemeinsam besiegen.“ So viel „Wir“ war lange nicht. Comeback für das Ziel eines Gemeinwesens, in dem nicht ökonomische Macht regiert? Werden wir die Ellbogengesellschaft hinter uns lassen für mehr Solidarität? Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich vertieft in der Pandemie (Krisengefühl). Keine Illusionen also bezüglich pädagogischer „Wir“-Beschwörungen. Und doch bestärken sie den Gedanken, was von Politik zu fordern wäre: dass für die Kosten von Corona vor allem jene aufkämen, die Gewinne gemacht haben, zum Beispiel, und dass „systemrelevante Berufe“ im Dienstleistungsbereich besser entlohnt und höher anerkannt sein sollten. Irmtraud Gutschke

H

Hula-Hoop Einen Reifen spielerisch um die Hüften kreisen zu lassen, das macht man seit der Antike. Eine US-Firma vermarktete Plastikreifen in den 1950ern als „Hula-Hoop“ – und schuf eine knackige Bezeichnung. Seitdem ist er aus Kinderzimmer und Turnhalle nicht wegzudenken, im Tanz und Varieté wird er seit Langem eingesetzt. Corona sorgte für einen Boom, denn Hula-Hoop versprach Abnehmen mit Schwung, und das zu Hause. Er ist derart im Trend (Sneakers), dass es teilweise schwer ist, das simple Sportgerät zu erwerben. Tobias Prüwer

K

Krisengefühl Der Run auf die Banken beginnt. Sparer geraten in Panik, fürchten um ihr Geld, schreibt B. Traven in seinem 1929 erschienenen Roman Die weiße Rose. Die gerade zehn Jahre alte Demokratie rüstete sich gegen die Rechte: Die Mehrheit stehe noch nicht hinter Adolf Hitler, so Heinrich Mann 1931. Dieses „Noch“ beherbergt das latent-virulente Krisengefühl der Weimarer Republik. Geschichte wiederholt sich nicht (auch nicht als Farce) (Zweimal), doch die Ausstrahlungen des kollektiven Gedächtnisses sind so aktiv wie der angeblich sicher verbunkerte Strahlenmüll. Nichts kratzt so sehr wie erinnerte Wunden: Inflation, Weltwirtschaftskrise, Krieg. Nicht zu vergessen eine Pandemie, die erst hundert Jahre später wieder ins Bewusstsein gerückt ist. Ulrike Baureithel

N

Nachtzug Auf ihn sind schon viele Abgesänge verfasst worden. Auch das Freitag-A–Z hat anno 2014 dem Schlafwagen ein Adé gewidmet. Damals hatte die Deutsche Bahn angekündigt, die City Night Lines einzustellen. Im Text wurden der Schlafwagenschaffner und der schnarchende Mitreisende verabschiedet und an den elendigen Rangierort Hauptbahnhof Fulda erinnert, der nachts den Schlaf raubte. Tatsächlich bot die Bahn seit 2016 keine Nachtzüge mehr an, während sie andernorts in Europa weiterfuhren. Greta Thunbergs Reisen haben das eindrucksvoll demonstriert. Nun sind wieder neue, auch durch Deutschland führende Verbindungen geplant. So soll zunächst jeweils eine Verbindung zwischen Wien, München und Paris sowie Zürich, Köln und Amsterdam eingerichtet werden. Später sollen jeweils Berlin und Wien mit Brüssel und Paris sowie Zürich und Barcelona miteinander verbunden werden. Nun springen sogar sogenannte Zukunftsforscher auf den Zug auf und prognostizieren eine „Renaissance“. Tobias Prüwer

P

Pop Stellen Sie sich einmal vor, ein Zeitreisender aus dem Jahr 1987 kommt in die heutige Zeit. Er wäre wohl ziemlich überwältigt von all dem Neuen. Spätestens aber wenn er Spotify öffnet, wäre er sicher erstaunt, wie wenig sich getan hat. Hören Sie einmal Blinding Lights von The Weeknd, 2021 ausgezeichnet mit der Diamantenen Schallplatte und eine der meistverkauften Singles überhaupt in Deutschland. Wären Sie nicht ein unbestreitbarer Teil der Gegenwart, könnten Sie es fassen, dass dieser Song nicht aus den 80ern stammt? Und könnten Sie fassen, dass er trotzdem erfolgreich wurde?

„Comebacks“ gab es im Pop einige. Die 90er sollen jüngst zurück gewesen sein. Und aktuell schwelgen vermeintlich viele wieder in den Sounds des Kalten Krieges. Nichts davon stimmt. Es hat keine Zeit seit Erfindung des Synthesizers gegeben, in der er nicht genutzt worden wäre. Es gibt blutjunge Grunge-Bands, steinalte Rapper und Punk so frisch, als wäre er nie gestorben. Es gibt alles, nur nichts Neues. Pop ist ein einziges, dauerhaftes Comeback. Konstantin Nowotny

S

Sneakers Dieser um 1870 erstmals mit einer weichen Gummisohle ausgestattete, lange Zeit vor allem von Profisportlern und Reichen getragene Sport- und Freizeitschuh – Gummi war teuer – hat eine rasante Entwicklung über Markenallianzen mit Spitzensportlern und Musikern, die Straße bis hoch in die Chefetagen durchlaufen. „Die Schuhe passen zu allem und stehen für eine überschaubare Welt“, so die Wirtschaftspsychologin Alexandra Hildebrandt: Wer Modetrends folgt, achtet darauf, welche Sneaker Pause einlegen müssen – 2021 die Sock Sneaker aus Mesh-Stoff, die sich dem Fuß wie Strümpfe anpassen – und welche ein Comeback feiern, wie der knöchelhohe 70er-Jahre High Top Sneaker. Helena Neumann

V

Vinyl Hippe Großstadt-WG-Zimmer beinhalten: an der Wand aufgehängte Rennräder, Monstera-Pflanzen – und Plattenspieler. Laut Umfragen hören fast 40 Prozent der Deutschen Schallplatten, jede/r achte wöchentlich. Nach dem Großbrand einer Lackfabrik in Kalifornien Anfang 2020 droht der Industrie eine gedrosselte Produktion. Doch die Rede vom angeblichen Platten-Revival ist Kokolores. Denn was wirklich boomt, sind Musik-Streamingdienste. Die meisten Songs werden weltweit über Youtube gehört. Die Musik-App Spotify (Comeback) aus Schweden ging 2018 gar erfolgreich an die New Yorker Börse. Zum Anderen: Parallel zum Vinyl-Pseudo-Revival öffnen keine Plattenläden plötzlich in den Innenstädten. Denn die waren nie weg. Aber trotz Platten-Boom gehen viele von ihnen auf dem Zahnfleisch: Steigende Mieten und zunehmender Onlinehandel erschweren das Geschäft. Hinzu kommt die To-go-Mentalität: Es boomen vor allem Bluetooth-Boxen. Das hört man nicht nur an Sommertagen im Park. Ben Mendelson

Z

Zweimal „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ So beginnt Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852) von Karl Marx. Am 18. Brumaire = 9. November 1799 hatte sich Napoleon Bonaparte per Staatsstreich zum Alleinherrscher gemacht, sein Neffe Louis Bonaparte, der sich Napoleon III. nannte, wiederholte das am 2. Dezember 1851. Es war ein Pseudo-Comeback, weil er der „Weltgeist zu Pferde“, den Hegel im Original gesehen hatte, nicht war. Émile Zola hat die ganze Erbärmlichkeit der Epoche des Neffen in der Romanreihe Die Rougon-Macquart (1871 – 93) nachgezeichnet.

Für Marx war schon jedes große Original ein Pseudo-Comeback, wenn auch in ganz anderer Weise. Napoleon I. hatte sich als römischer Kaiser drapiert, wie Luther als Paulus. Solche Menschen, schreibt er, reden sich ein, nur Vergangenes zu erneuern, weil ihr wahres Werk ihnen Angst macht: „noch nicht Dagewesenes zu schaffen“. Andere aber, wie jener Neffe, hüllen sich nur in vergangene Kleider. Das ist die Farce. Es gibt leider noch eine dritte Art Pseudo-Comeback, die faschistische. Die Fasces, Rutenbündel mit Beil, waren im antiken Rom das Amtssymbol der höchsten Machthaber. Auch der Gruß mit ausgestrecktem Arm geht auf diese Zeit zurück. Dieser Versuch, in die Antike zu regredieren und hinter sie noch zurückzufallen, war ernst gemeint. Michael Jäger

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