Psychologe Jorge Bucay: „Man kann nicht immer fröhlich sein“
Interview Jorge Bucay ist einer der bekanntesten Therapeuten Argentiniens. Er erklärt, warum Glück als innerer Frieden zu verstehen ist – und wie ihm seine jüdischen und arabischen Großeltern das Geschichtenerzählen nahebrachten
Sieht es als seine Berufung „Menschen zu heilen“: Bestsellerautor und Psychotherapeut Jorge Bucay
Foto: Pablo Cuadra/Getty Images
Jorge Bucay erscheint pünktlich auf Zoom, bei ihm in Buenos Aires ist es später Vormittag. Bucay redet auf Spanisch los, malt seine Gedanken aus, man spürt, dass er ein Gesprächsprofi ist. Oft antwortet er mit einer Gegenfrage oder einem Gleichnis, zwischendurch versichert er sich, ob wir alles verstanden haben: „Claro?“ Sein Buch Komm, ich erzähl Dir eine Geschichte (2007) wurde ein Weltbestseller. Es folgte unter anderem Das Buch vom Glücklichsein (2016). Er arbeite mittlerweile nicht mehr in seiner Praxis, sagt der 73-Jährige, sondern als Berater und Schriftsteller.
der Freitag: Herr Bucay, Sie sagen, es sei die absolute Pflicht der Menschen, glücklich zu sein. Aber warum müssen wir alle glücklich sein?
Jorge Bucay: Ich denke,
ie absolute Pflicht der Menschen, glücklich zu sein. Aber warum müssen wir alle glücklich sein?Jorge Bucay: Ich denke, es ist Teil der Verpflichtung, die man für das Privileg eingeht, am Leben zu sein. Wir sollten das Leben ehren. Wie es in einem berühmten argentinischen Lied heißt: Man muss sich um das eigene Glück kümmern. Außerdem glaube ich, dass es ohne dieses Glück keine Möglichkeit gibt, das eigene Leben zu etwas Produktivem, etwas Nützlichem zu machen. Der österreichische Neurologe Viktor Frankl sagte: „Wer nicht in der Lage ist, seinem Leben einen Sinn zu geben, lebt ein sinnloses Leben. Und ein sinnloses Leben ist nicht lebenswert.“ Glück ist also das „a priori“ für den Sinn des Lebens.Sinn des Lebens klingt nach einem Luxusproblem. Bedeutete Glück für die Menschen früher nicht etwas ganz anderes?Es hat sich nicht die Bedeutung von Glück, aber die Lesart geändert. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand meine Großmutter, die aus einem verarmten Land wie Syrien nach Argentinien kam, gefragt hat, ob sie glücklich war. Hätte man jemanden vor zwei Jahrhunderten danach gefragt, hätte er geantwortet: Nun, die Ernte ermöglicht es uns, zu essen. Von unseren fünf Kindern sind nur zwei gestorben. Und das ist gut so.Gewisse Grundbedürfnisse müssen doch aber gestillt sein, ehe ich darüber nachdenken kann, ob ich glücklich bin.Natürlich ist es einfacher, wenn man materiell sorglos ist. Aber ich kann hungrig sein und dennoch meinen inneren Frieden nicht verloren haben. Aber wenn mein Sohn krank ist, er im Sterben liegt und ich kein Geld habe, um Medikamente für ihn zu kaufen: Kann ich dann glücklich sein? Natürlich nicht, in diesem Moment kann das nicht sein. Es gibt schreckliche und dramatische Momente. Meist liegt das Problem aber in uns selbst. Du bist unzufrieden mit dem, was du bist. Du bist unzufrieden damit, wie du gelebt hast. Du bist auf der Suche nach deinem Weg. Wenn Glück, jenseits materieller Bedingungen, als innerer Frieden definiert wird, dann müssen wir den Weg finden, der uns in die Richtung dessen führt, was unserem Leben Sinn gibt.Glück ist also innerer Frieden?Manche denken, Glück bestehe darin, fröhlich zu sein. Aber in Wirklichkeit kann man nicht immer fröhlich sein. Der traurigste Moment meines Lebens, das war bisher der Moment auf dem Friedhof, auf dem wir die sterblichen Überreste meiner zwei Tage zuvor verstorbenen Mutter beisetzten. Ich war niedergeschlagen. Ich war in meinem Leben noch nie so traurig. Und doch, wenn ich heute zurückblicke, kann ich nicht sagen, dass ich in diesem Moment aufgehört habe, glücklich zu sein. Ich befand mich an dem Ort, an dem sie begraben sein wollte, in Sicherheit und Geborgenheit, und vor allem verabschiedeten sie und ich uns in diesem Moment, ohne dass irgendeine Schuld zwischen uns stand. Es gab nichts, was ich ihr hätte sagen wollen, nichts, was ich aus ihrem Mund hätte hören wollen, was sie mir nicht schon gesagt hatte. Wir waren in Frieden. Es scheint mir also, dass Glück mit einem Mangel an Freude vereinbar ist.Sie schreiben in Ihren Büchern, dass wir bei uns selbst auf die Suche gehen sollen, unsere Wünsche herausfinden und nicht den Erwartungen anderer entsprechen sollen. Warum ist das für viele Menschen so schwierig?Das ist gar nicht so schwierig. Man braucht keinen bestimmten Ort, an dem man ankommt, sondern eine Richtung. Wohin gehe ich? Wenn man seinen Weg auf die Richtung auslegt, für die man sich entschieden hat, dann besteht das Glück in der Gewissheit, dass ich mich auf dem Weg befinde, dass ich das Leben gestalten will.Die meisten Menschen wollen aber auch mal ankommen, also ihre Wünsche erfüllen.Es stimmt nicht, dass man auf dem Weg des Glücks ist, indem man versucht, Wünsche zu befriedigen. Es wäre besser, zu versuchen, dieses und jenes nicht zu haben. Das ist natürlich ein sehr buddhistisches Konzept. Es ist wahr, dass ich nicht glücklich bin, wenn ich keinen meiner Wünsche befriedigen kann. Aber versuchen wir, unsere Begierden zu zügeln! Versuchen wir es mit einem Bild: Angenommen, ich beschließe, mein Glück besteht darin, meinen Schatten zu erreichen. Laufe ich ihm nach, erreiche ich ihn nicht nur nicht, sondern er wird auch immer größer. Aber drehe ich mich um und laufe zum Licht, kommt der Punkt, an dem der Schatten und ich eins werden. Dieser Moment ist der Moment der Fülle.Das klingt alles nach einer sehr individualistischen Sichtweise auf Glück.Darauf würde ich gerne mit einer Geschichte antworten: Ein Junge bekommt ein Damespiel geschenkt. Er möchte mit seinem Vater spielen, doch der hat nie Zeit. Irgendwann insistiert er so lange, dass der Vater eine Zeitschrift nimmt, auf deren Titel eine Weltkarte abgebildet ist, diese in kleine Teile zerschneidet und dem Jungen gibt. Hier, wenn du die Karte zusammengesetzt hast, spiele ich mit dir, sagt der Vater. Dabei denkt er, dass der Junge so lange brauchen wird, dass dann ohnehin Schlafenszeit ist. Doch nach kurzer Zeit kommt der Junge wieder und hat die Karte zusammengesetzt. Wie hast du das gemacht, fragt ihn der Vater verwundert. Der Junge antwortet: Ich habe gesehen, dass auf der Rückseite ein Mann abgebildet war. Ich habe also den Mann zusammengesetzt und die Welt setzte sich von selbst zusammen.Sie verpacken Ihre theoretischen Erklärungen oft in Märchen und Fabeln. Woher haben Sie all die Geschichten?Meine vier Großeltern waren alle Einwanderer aus Syrien, aus Damaskus. Ein Teil war jüdisch, der andere arabisch. Vor allem die beiden Großväter erzählten Geschichten. Der eine erzählte Geschichten über Derwische und las aus dem Koran. Der jüdische Großvater erzählte chassidische Märchen. Mein Bruder und ich wuchsen umgeben von diesen Geschichten auf. Auch mein Vater liebte es zu lesen, dabei war er arm wie eine Kirchenmaus. Ich wurde in Floresta geboren, in einem armen Viertel im Westen von Buenos Aires, damals 50 Meter von der städtischen Müllhalde entfernt, es roch nach Rauch und Unrat. Mein Vater hat meinem Bruder und mir immer gesagt, dass es in diesem Haus kein Geld gibt, um die Spielsachen zu kaufen, die wir haben wollten, es ist auch kein Geld da, um einmal im Monat in den Zirkus zu gehen. Oder für neue Klamotten. Aber er fand immer Geld für ein neues Buch.Gab es ein Märchen, das Sie als Kind besonders mochten?Ja, die erste Geschichte, die mir erzählt wurde, war Das hässliche Entlein. Als mein Vater sie mir mit drei Jahren erzählte, konnte ich mich nicht davon lösen. Und es dauerte mehr als 30 Jahre, bis ich Das hässliche Entlein verstand. In Wirklichkeit geht es in dieser Geschichte um diese drei Fragen: Wer bin ich, wohin gehe ich? Und mit wem?So heißt ein Buch von Ihnen. Wenn diese Fragen schon im „Hässlichen Entlein“ beantwortet sind, warum schreiben Sie dann?Manchmal frage auch ich mich, was ich Neues sagen kann, was nicht schon gesagt wurde: Nichts. Und warum schreibe ich? Um einen neuen Weg zu finden, es zu sagen. Und ich kann diese Liebe zum Geschichtenerzählen auch an andere weitergeben.Wie kam es eigentlich, dass Sie Therapeut geworden sind?Ich habe nachgezählt, dass ich ungefähr 28 Berufe hatte, die ich bis dahin ausgeübt habe. Mein Bruder und ich haben sehr früh angefangen zu arbeiten, Zeitschriften zu verkaufen, Botengänge zu machen, weil wir wirklich wenig Geld hatten. Als ich zwölf war, habe ich in einem Zirkus gearbeitet, als Clown. Später fuhr ich Taxi, eine Zeit lang war ich Laufbursche bei einer Bank oder Versicherungsvertreter. Auch im Theater habe ich gearbeitet.Was konnten Sie in der Zeit, bei all diesen Jobs, über Menschen lernen?Ich lernte viel über die Art und Weise, wie Menschen sich vor Schmerz schützen. Oder wie sie sich an ihren Schmerz klammern, bevor sie eine neue Möglichkeit ausprobieren. Wir sind blind, sehen die Auswege nicht. Und mit 18 habe ich dann beschlossen, dass ich einen Beruf erlernen muss. Ich wollte unbedingt Arzt werden.Warum?Um Menschen zu heilen. Das war wohl meine Berufung. Daher begann ich mein Medizinstudium mit dem Gedanken, dass ich Kinderarzt werden wollte. Aber dann erlebte ich, wie ein kleiner Junge mit vielen organischen Schäden im Krankenhaus starb. Und ich fragte mich: Was soll das Ganze? Mir wurde klar, dass ich kein Kinderarzt sein kann, wenn ich das nicht überwinden kann. Ich begann also meine Spezialisierung als Psychiater und habe mich in dieses Gebiet verliebt. Ich begann zu forschen und nach mehr zu suchen, meine eigene Art des Seins zu schaffen.Sie scheinen ein gutes Verhältnis zu Ihren Kindern zu haben, haben zusammen mit Ihrem Sohn ein Buch über Erziehung geschrieben. Was macht gute Eltern aus?Ich habe eigentlich keinen großen Plan. Ein großes Lob an meine Kinder: Sie sind für unsere Beziehung genauso verantwortlich wie ich. Man sollte seine Kinder lieben, aber nicht als einen Besitz, als eine Errungenschaft oder eine Trophäe, mit der man angeben kann. Nicht als einen persönlichen Erfolg, sondern als eigenständige und unabhängige Personen.Herr Bucay, ist noch etwas ungesagt geblieben?Ja, eine Frage müssen Sie mir noch stellen.Welche denn?Sie müssen fragen: Herr Bucay, Sie sagen, jeder Mensch hat seine Geschichte, die, wenn man sie ihm erzählt, sein Leben verbessert. Welche Geschichte ist das bei Ihnen?Gut, dann fragen wir Sie das.Das ist eine alte Geschichte. Es geht um einen jungen Herrscher, der einen alten Bettler zu seinem Berater macht. Dieser Bettler kommt am Hof zu Ruhm und Geld, doch verschwindet er jeden Abend in einem speziellen Raum des Palasts. Der König fürchtet, sein Berater könnte ein Komplott schmieden, und stellt ihn zur Rede. Da stellt sich heraus: In dem Zimmer bewahrt der Berater sein altes Gewand und den Stock auf – sein einziger Besitz, bevor er in den Palast kam. Auf des Königs Frage, warum er das tue, antwortet er: Ich komme jeden Tag hierher, um nicht zu vergessen, woher ich komme.Placeholder authorbio-1