Reißwolf des Vergessens

Sonntag 1989 Am 17. Dezember 1989 veröffentlicht der "Sonntag" Aussagen von Demonstranten, die in der Nacht vom 7. zum 8. Oktober 1989 in Berlin/Ost verhaftet worden sind

Eine solche Untersuchung hat es im wieder vereinigten Deutschland nie wieder gegeben. Sie blieb eine einmalige Angelegenheit und regierte auf einmalige Vorgänge in Ostberlin am Abend des 7. Oktober 1989 und in der Nacht danach. Polizei und Sicherheitskräfte hatten mit bis dahin ungekannter Härte dafür sorgen wollen, dass der 40. Jahrestag der DDR störungsfrei blieb. Hunderte Demonstranten in Berlin-Mitte und im Bezirk Prenzlauer Berg wurden buchstäblich von der Straße geräumt und danach – wie es im Polizeijargon hieß – „zugeführt“. Das bedeutete, Festgenommene kamen unter unwürdigen Bedingungen in Haftanstalten oder an provisorische Internierungsorte – sie wurden zusammengedrängt, eingeschüchtert und drangsaliert.

Die SED-Führung sieht zu

Am 5. Oktober 1989, zwei Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR, hat Minister Erich Mielke alle Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) fernschriftlich angewiesen: „Die Wirksamkeit aller Vorkehrungen und Maßnahmen zur Sicherung der Veranstaltungen (gemeint sind offizielle Feiern zum 40. Jahrestag - die Red.) sind mit dem Ziel des rechtzeitigen Erkennens jeglicher provokatorisch-demonstrativer Handlungen, der Formierung und Ansammlung feindlich-negativer Kräfte nochmals gründlich zu überprüfen. Feindlich-negative Ansammlungen sind mit allen Mitteln geschlossen zu unterbinden.“

Dass mit „allen Mitteln“ (Räumfahrzeugen und Wasserwerfern) gehandelt wird, lässt sich besonders im Umgeld der S-Bahnhofs Schönhauser Allee beobachten. Wie gehandelt wird, ist später den Schilderungen der Betroffenen – der „Zugeführten“ – zu entnehmen, die teilweise als Unbeteiligte in den Sog der Ereignisse geraten, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Andere wollen angesichts des desolaten Zustandes der DDR im Oktober 1989 als mündige Bürger protestieren gegen Refornunwillen und Halsstarrigkeit. Ermutigt durch die Anwesenheit des sowjetischen Staatschefs Gorbatschow, dessen Perestroika mit der Veränderungsresistenz der DDR kontrastiert. Die Führung der SED hat vor dem DDR-Jubiläum Reaktion und Dialog verweigert. Das Phänomen des seit August 1989 nicht nachlassenden Flüchtlingsstroms wird beschwiegen. Man ist wie gelähmt und außerstande, diesen Aderlass einzudämmen und Tausende junger Menschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnen könnte, in ihrem Land zu bleiben.

Was erinnert werden soll

Als das Ausmaß der Polizeiübergriffe vom 7./8. Oktober offensichtlich wird, weil sich immer mehr „Zugeführte“ öffentlich zu Wort meldeten, wird der Ruf nach unabhängiger Untersuchung immer lauter. Am 22. Oktober – bei einer Kundgebung vor dem Roten Rathaus – gesteht Oberbürgermeister Erhard Krack zu, dass eine Kommission eingesetzt werden müsse. In der Stadtverordnetenversammlung vom 3. November gibt es eine entsprechende Beschlussvorlage (Nr. 51/89), deren Annahme reine Formsache ist. 29 Personen werden zu Mitgliedern der Kommission berufen, unter anderem die Schriftsteller Christa Wolf, Daniela Dahn, Christoph Hein und Jürgen Rennert, der Dramaturg Christoph Singelnstein, der Regisseur Lew Hohmann, die Schauspielerin Jutta Wachowiak und der Journalist Fritz-Jochen Kopka aus der Sonntag-Redaktion. Ein Jahr lang werden sie die Augenzeugenberichte der Zugeführten hören, ehemalige Politbüro-Mitglieder, Generäle von Staatssicherheit und Armee oder den Berliner Polizeipräsidenten befragen.

Die Kommission beginnt mit ihren Recherchen, da existiert die DDR noch – sie legt ihren vorläufigen Abschussbericht vor, da ist nur noch ein deutscher Staat übrig geblieben. Christoph Hein schreibt darüber, erst sei man eine „Vereinigung von Staatsfeinden“ gewesen, „danach das Relikt einer scheinbar lang zurückliegenden Epoche“.

In der Ausgabe 51/89 vom 17. Dezember 1989 dokumentiert der Sonntag auf einer Seite drei Gedächtnisprotokolle von "Zugeführten" des 7. Oktober , um dem Reißwolf des Vergessens zu entziehen, was erinnert werden soll.


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