Eine neue Ära sollte beginnen, stattdessen tat sich für Norwegen am Morgen des 14. Oktober ein Abgrund auf. Am Abend vor der Vereidigung einer neuen und sozialdemokratisch geführten Regierung mit zwei Überlebenden des Anschlags von Utǿya als Ministern in Oslo, jagte der Attentäter Espen B. in der Kleinstadt Kongsberg Menschen in einem Supermarkt mit Pfeil und Bogen. Er ging dabei genauso gnadenlos vor wie etwas mehr als zehn Jahre zuvor Anders Behring Breivik.
Die Norweger leben seit Jahrzehnten in der Überzeugung, ein besonderes Land zu sein. Man spricht vom „skandinavischen Exzeptionalismus“, vom Glauben, moralischer zu handeln und zu leben als der Rest der Welt. Anders Behring Breivik hasste diese Leitbilder.
Noch ist nicht geklärt, was Espen B. antrieb. Der Geheimdienst PST äußerte schnell den Verdacht, B. habe einen islamistischen Anschlag verübt. Inzwischen mehren sich die Hinweise auf eine psychische Erkrankung. Doch verhindert das keine Diskussion über Behörden, die wieder ein gefährliches Abdriften übersehen haben.
Der letzte sozialdemokratische Ministerpräsident Norwegens hieß Jens Stoltenberg. Er verlor sein Amt nach den Anschlägen 2011 auch deshalb, weil er die Norweger nicht vor Breivik schützen konnte. Eine Kommission deckte 2012 eine Agenda der Arglosigkeiten bei den Sicherheitsbehörden auf. Sie beruhten auf dem Irrtum, ein Norweger könne nichts Übles im Schilde führen. Aber das Land ist keine Insel, sondern ein Teil Europas. Eine von sozialen Medien angeheizte Debatte um Einwanderer und den Islam hat das Land vor 2011 erfasst und seitdem nicht aufgehört, auch wenn es keine nennenswerte rechtsradikale Szene gibt.
Der virtuelle Unruhezustand der norwegischen Gesellschaft bietet psychisch labilen Einzelgängern mit toxisch männlichem Profil Projektionsflächen für Versuche, durch Raserei auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht erkennen die Norweger nach Kongsberg, dass ihre auf Vertrauen zueinander basierende Gesellschaft großartig ist, aber keine undurchdringbar heile Welt. Vielleicht beginnen sie, stärker auf jene zu achten, die den Erwartungen ihrer Gesellschaft nicht entsprechen können oder wollen. Einen Anders Behring Breivik oder Espen B. kann es überall geben. Eben auch in Norwegen.
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