Glatteis von A bis Z: Abhörskandal, Gurkenwasser, Nietzsche
Lexikon Es gerät gerade so manches ins Rutschen, buchstäblich und als Metapher. Selbst wenn Nietzsche fröhlich auf glattem Eis tanzte – Hinfallen kann tödlich sein. In Bayern fand man jetzt für’s Streuen eine grüne Alternative
In Niederbayern geht man mit Gurkenwasser gegen Glätte vor – das ist auch schonender für Samtpfoten
Foto: Tom Huber/Connected Archives
A
wie Abhörskandal
Für den Fernfahrer Karl Maiwald ist Glatteis eine winterliche Arbeitsbedingung. Sonst spielt es in Max von der Grüns Roman Stellenweise Glatteis und in Wolfgang Petersens gleichnamiger Verfilmung von 1975 keine Rolle. Vielleicht ist es eine Metapher für das soziale Glatteis, auf das sich die Arbeiter im Wirtschaftswunderland begeben hatten. Vollbeschäftigung, gute Löhne, Warenkonsum, sozialer Frieden. Die Gastarbeiter kamen und blieben als Mitmenschen. Der Film beginnt mit Szenen der Xenophobie, als ein italienischer Arbeiter des Mordes an einer Minderjährigen verdächtigt wird. Die „unerhörte Begebenheit“ der Story ist aber, dass Maiwald eine Abhöranlage entdeckt, mit der die Firmenleitung seine Kollegen ausfors
, dass Maiwald eine Abhöranlage entdeckt, mit der die Firmenleitung seine Kollegen ausforscht. Es gibt Aufruhr, Streiks, Aussperrungen, Entlassung. Maiwald wehrt sich. Aber die Gewerkschaft taktiert, unterstützt ihn nicht. Die Kollegen wollen ihre Ruhe. Am Schluss steht der Mann am Kneipentresen und sieht, alles geht seinen kapitalistischen Gang (→ Kälte). Michael SuckowEwie EissturmGleich am Anfang, das Eis. Es knackt. Die elektrischen Oberleitungen sind wieder frei. Der stehen gebliebene Zug setzt sich langsam, knirschend wieder in Bewegung. Erst am Ende des so melancholischen wie fulminanten Films Der Eissturm wird sich diese Szene erschließen. Ein junger Mann, beinahe noch ein Kind, wird im Eissturm, im fatalen Glatteis sterben. Ang Lees 1997 entstandenes Meisterwerk, das in einer Nacht des Jahres 1973 spielt, macht den Eissturm zum Symbol eines Landes, das zu zerbersten droht. Es ist ein Film über Lügen, Moral, Geborgenheit, über eine Familie und eine Nation. Hier ist alles gefroren. Nicht nur die spiegelglatten Straßen, auch die Gefühle der Menschen. Der Tod auf dem Glatteis ist sinnlos, doch am Ende, wenn der Zug aus New York auf dem Bahnhof der Kleinstadt in Neuengland einfährt, scheint Hoffnung auf. Marc Peschke Gwie GurkenwasserGurkenwasser statt Streusalz: In Niederbayern setzt man Gemüsewasser gegen Eisglätte ein. Weil Salz für die Umwelt fatal ist und Böden, Pflanzen und auch Straßenbeläge schädigt, suchte man nach einer Alternative. Und landete bei Gurkenwasser. In einem mehrjährigen Pilotprojekt erprobt die bayerische Staatsbauverwaltung dies bereits im regionalen Winterdienst rund um Dingolfing. Das Gurkenwasser, besser: die Sole, fällt bei der Gewürzgurkenproduktion eines Großherstellers für Senf und Feinkost an. Es wäre nur noch ein Abfallprodukt. Etwa 10.000 Kubikmeter bleiben jährlich übrig. Sie hätte ansonsten aufwendig über die Kläranlage entsorgt werden müssen. Nun werden damit eben die glatten Straßen enteist. Durch die Weiterverwendung verringert der Winterdienst den zusätzlichen Salzeintrag in die Umwelt massiv, kostensparender ist das auch. Ob die mit Gurkenwasser besprengten Wegeallerdings auch den Appetit auf Fettbemme anregen, erklärten die Verantwortlichen nicht. Tobias PrüwerKwie KälteAuf Eis liegen die kleinen Knochen, darin sitzt das NOCH der noch nicht toten Seelen, doch KÄLTE ist ein Wort zu viel, ist zu groß, unser eigenes Klirren macht taub. Kalt sind andre, wir nicht, die kühl gern genannten Strukturen zum Beispiel (→ Abhörskandal), doch wir nicht, nicht wir! Wir leugnen das Zittern und wie wir die Eigenen drücken, wir haben ja alles im Griff: Geige und Ballett in den oberen Schichten, dann Hockey, Klavier oder Nachhilfe, notfalls auch nur Hort, und Fußball. Im Zweifel, bei Glatteis, sind Plätze gesperrt, wohin mit den Füßen? Die Leistung muss stimmen, das weiß jedes Kind. In ihr steckt das EIS, auch das noch so geschenkte. Dünn ist es, das Kind rutscht drauf aus, auch in teuren Klamotten, da Maßbänder jucken, Maßstäbe hoch liegen. Die Liebe reicht nicht, sie betäubt nur, sie dient uns beim Kratzen auf Eis. Katharina Körting Nwie NietzscheAn meinen Kühlschrank habeich mit einem Magneten eine Postkarte gehängt, auf der mein Lieblingsaphorismus steht: „Glattes Eis, ein Paradeis, für den, der gut zu tanzen weiß.“ Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) hat ihn in seiner Fröhlichen Wissenschaft unter der Überschrift „Für Tänzer“ notiert. Was Nietzsche wohl damit meinte: Manche blühen in Unruhe und Chaos auf, statt einzuknicken, sie lieben das Risiko und die Unplanbarkeit. Allerdings funktioniert die Metapher von Nietzsche nicht richtig: Tanzen auf Glatteis kann man lernen (→ Schlittschuhlaufen), sein Reim suggeriert also, dass Abenteuerlust etwas ist, was man sich aneignen kann. Aber kann man „lernen“, ein Held zu sein, ein Abenteuerfreak? Ich glaube ja, diese Dinge sind einem von Geburt an gegeben – oder nicht. Die harten Typen können nur noch härter werden. „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, schreibt Nietzsche in der Götzen-Dämmerung. Zum Glück bringt einen ein bisschen Tanzen auf dem Glatteis nicht direkt um. Dorian BaganzRwie RedensartenMan sollte sich nicht aufs Glatteis führen lassen, denn dann wird man, unter Umständen mit drastischen Folgen, getäuscht, auf den Arm genommen oder es werden einem wichtige Informationen vorenthalten. Auf alle Fälle ist man dann in einer schwierigen Lage. Die Kuh muss dagegen, weil sie ja, jedenfalls in der Redensart, schon auf dem Eis ist, schnellstmöglich von dort heruntergelockt werden. Sie ist mit ihren durchschnittlichen 800 Kilogramm Körpergewicht einfach zu schwer dafür und kann einbrechen, wohingegen man den Esel, der, wenn es ihm zu wohl ist, aufs Eis geht und dort womöglich auch noch tanzt, getrost sich selbst überlassen kann. Denn er hat sich, anders als der Mensch oder die Kuh, ja aus freien, wenn auch vielleicht nicht unbedingt aus klügsten Stücken dorthin begeben (→ Schlittschuhlaufen). Beate Tröger Swie SchlittschuhlaufenDie Winterzeit bringt nicht nur Glühweinrunden auf dem Weihnachtsmarkt und Pakettürme im Treppenhaus: auch Eishallen und Schlittschuhbahnen öffnen ihre Pforten. Meine eigene Tollpatschigkeit auf Kufen ist ein guter Eisbrecher zum Kennenlernen. Peinlicher als das „Mit-zwei-Händen-an-der-Bande-Vorwärtstapsen“ wird’s nicht. Begabtere Besucher liefern sich Wettrennen, gleiten händchenhaltend übers Eis – oder markieren den Obermacker und bremsen so scharf ab, dass meterweise Eis versprüht wird. Während beim Eiskunstlauf im Fernsehen die wildesten Pirouetten dargeboten werden, müssen Normalbürger aufpassen: Das beliebte Eislaufen auf dem See etwa ist lebensgefährlich! Erst ab einer Eisdicke von mindestens fünf Zentimetern ist die Fläche für eine Einzelperson begehbar, bei Gruppen wird von mindestens acht Zentimetern ausgegangen. Nur: Woher sollen Sie wissen, ob es zu dünnes Eis ist? In mancher Innenstadt wurden indes schon Eisbegeisterte gesichtet, die bei schnell ausgebreitetem Glatteis (Blitzeis) in der Fußgängerzone eine Kür vorführten. Ben MendelsonTwie TodesursacheIm vergangenen Jahr zählten Behörden 3.815 Verkehrsunfälle mit Personenschäden, die durch Glätte passierten (→ Unfall). Auch für Arbeitsunfälle ist Glätte ein Hauptgrund. Kein Wunder, dass sie in fiktionalen Werken als vorgeblich natürliche Todesursache beliebt ist, um Morde zu kaschieren. Mehrere literarische und filmische Krimis tragen Glatteis im Namen. Nicht immer klingt der vermeintlich perfekte Mord plausibel. Im Klappentext zum Film Glatteis (1998) heißt es etwa: „Als seine Chefin in ihrer Ferienwohnung zu Tode stürzt, ist der langjährige Hausmeister der einzige, der nicht an einen Unfall glaubt. Er recherchiert verbissen die Hintergründe der Tat. In einer polnischen Putzfrau findet er eine Verbündete.“ Auch eine Kriminalbuchhandlung heißt so: „Glatteis“ verkauft seit fast einem Vierteljahrhundert in München Mörderisches. Tobias PrüwerUwie Unfall„Eine Dame ganz in weiß wollte → Schlittschuhlaufen auf dem Eis“ – blöderweise ging mir dieser Gassenhauer durch den Kopf, als ich plötzlich wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Aufstehen konnte ich nicht, Atmen tat weh. Auf den Schrecken eine Prise Selbstironie: Vielleicht hätte ich als Kind das Eislaufen üben sollen. „Sie müssen zum Arzt“ – ein freundlicher Mann half mir auf die Beine. „Mach ich.“ Aber gerade jetzt war dafür keine Zeit. Ich musste in die Redaktion; eine Literaturbeilage war zu erstellen. Als die Schmerztabletten nicht mehr halfen, offenbarte das Röntgenbild einen Deckplatteneinbruch der Wirbelsäule. Die hätten sie mir im Krankenhaus gern operativ versteift. Ich wählte den konventionellen Weg – ein starres Dreipunktkorsett bis zum Sommer. Gelegentlicher Schmerz und bleibender Respekt vor dem Winter: Bleib bei Glatteis zu Hause! Inzwischen bietet Homeoffice eine Möglichkeit, doch nicht für alle Berufe. Und ein Recht auf Daheimbleiben gibt es wegen Glatteis nicht, es ist Sache der Beschäftigten, wie sie zur Arbeit kommen. Unfälle häufen sich. Irmtraud Gutschke Zwie Zandt, Steven VanMit Bruce Springsteens E-Street Band wurde er als Little Steven berühmt. Später gab er den Stripclubbesitzer Silvio Dante in der Serie Sopranos. Rollen, die er mit Bravour meisterte. Seine größte Herausforderung allerdings erlebte Steven Van Zandt bei dem Versuch, einen spiegelglatten Gartenpfad zu überwinden. Auf den Ledersohlen feiner italienischer Schuhe. Mit einem solchen Hindernis (→ Eissturm) hat der New Yorker Gangster Frank Tagliano, den Steven Van Zandt hier verkörpert, nicht gerechnet. Dabei war der norwegische Skiort Lillehammer seine eigene Wahl für das Zeugenschutzprogramm. Wie Tagliano diesen Klima- und Kulturschock überwindet, lässt sich in der fabelhaften, aber leider längst eingestellten Serie Lilyhammer (2012 – 2015) beobachten. Das ist nicht nur komisch, sondern auch sehr lehrreich. Joachim Feldmann
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