Ein letztes Aufbäumen gegen das Hässliche in der Literatur fand 1966 durch den einflussreichen schweizerischen Germanisten Emil Staiger statt. In seiner Rede über „Literatur und Öffentlichkeit“ verstieg er sich zur Aussage: „Wenn (…) Dichter behaupten, die Kloake sei ein Bild der wahren Welt, Zuhälter, Dirnen und Verbrecher Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit, so frage ich: In welchen Kreisen verkehren sie?“
Zu diesem Zeitpunkt nahm die 1947 in Trier geborene Ursula Krechel gerade ihr Studium der Geisteswissenschaften an der Uni Köln auf. Der Schönheitsdiskurs, den sie in ihrem neuen Gedichtband Beileibe und Zumute führt, liest sich wie ein veritabler Nachtrag zu Staigers Rede. Maßgeblich ist da
#223;geblich ist das Gedicht Die Widerstandslinie der Schönheit, das Schönheitsbilder als bereits idealisierte Entitäten entlarvt: „Was, wenn Schönheit das Geschönte wäre“, lautet eine typische Suggestivfrage. Indem sie nun die Begriffe des vermeintlich Schönen dekonstruiert, rangiert sie ihre Gedichte auf das „weniger Schöne“ in seiner Ungeschminktheit: „Schönt Liebe nicht, mildert, dämpft, verunklart / bestürzt das weniger Schöne, das gleichgültig lässt?“Ein Gefühl der VersprengungEs war Krechel, die 1989 als eine der ersten auf die herausragende Lyrik der 1954 in Leipzig geborenen Jayne-Ann Igel hinwies. In den kurzen hybriden Texten von alles lichter winter erzählt Igel, die auch Theologie studierte, profane Geschichten von „gefallenen engeln“ – bevorzugt aufgrund ihrer Bereitschaft, „sich auf etwas einzulassen, / statt nur aus den sphären der unantastbaren“. Die bewusste Inszenierung von luziferisch-vergänglichen Engelsschicksalen wird von poetologischen Reflexionen unterstrichen: „unsäglich diese klangschaft aus sage und säge“. Sie werden flankiert von einer Auseinandersetzung mit den Grenzen poetischer Wahrnehmung: „man / spricht von augenlicht, als ob das auge es selbst aussende, in / die welt, die eine andere als jene projektionsfläche im innern, / die ungenügend beschrieben, obgleich so oft und ausgiebig / das augenlicht daran geben, einen glanz erwartend, von / innen.“ Das Faszinierendste an Igels Gedichtband ist sein Form-Inhalt-Widerspruch: Die Wohltemperiertheit des poetischen Stils macht weder vor Abgesängen noch vor bedrückenden oder hochexplosiven Themen halt: Das sind Fragen nach der Herkunft, dem „gefühl der versprengung“, dem Eingehegtsein oder dem Klimawandel.Marcus Roloffs poetischer Zugriff auf das „weniger Schöne“ ist radikal anders. Seine Vorliebe für Realien erfährt in seinem neuen Band Gespräch mit dem Horizont eine drastische Zuspitzung. Denn er wagt sich an das oft skandalisierte Genre der dokumentarischen Literatur heran. Sein Zyklus waldstücke beleuchtet fast hundert Jahre deutscher Forensikgeschichte. Dass die Mehrheit der Fälle bis heute ungeklärt ist, mag für Roloff der Anlass seines konzeptuellen Schreibens und seiner Erinnerung an die Opfer gewesen sein. Doch die Auswahl der Fälle geht auf die Beobachtung einer Häufung zurück: Beweismittel und Leichen(teile) werden oft im Wald gefunden, auch wenn „fundort […] nicht gleich / tatort“ ist. Jedes „waldstück“ beinhaltet Informationen, die es Leser*innen ermöglichen, durch Recherche zum konkreten Fall zu gelangen. Was aber ist der ästhetische Ertrag dieser Lyrik? Durch die kunstvolle Komposition authentischen Materials gelingt ihr eine Verschiebung der Perspektive auf die Verbrechen und den medialen Umgang mit ihnen. Ein Beispiel: Wenn „zwei weiße turnschuhe / marke adidas“ unaufhörlich durch den deutschen Blätterwald herumgeistern, dann kommt das einer „werbung post mortem“ gleich.Mit Igel teilt der 1952 in Wissen an der Sieg geborene Klaus Anders die Wohltemperiertheit des poetischen Stils, mit Roloff das Interesse am konzeptuellen Schreiben. Séptimas lautet der Titel seines letzten Werks. Damit ist in Anlehnung an die Septime als den siebenten Ton der diatonischen Tonleiter oder das Intervall von sieben Tönen das enge Korsett des Siebenzeilers gemeint. 105 hochmelodiöse Siebenzeiler beinhaltet Anders’ Neuerscheinung. „Fußgängergedichte“ nannte das Dichter-Urgestein Wulf Kirsten einmal die eigenen Texte. Unter diese Kategorie fallen auch die vorliegenden Siebenzeiler.Lang allein mit den BäumenDass Anders gelernter Gärtner ist und Gartenbau studierte, ist den Gedichten anzumerken. Sie entstehen unterm freien Himmel und beziehen ihre unwiderstehliche Kraft aus der Betrachtung von Landschaften, die ohne botanisches Wissen nicht möglich wäre: „Keiner / sieht die winzigen Blüten [des Hirtentäschelkrauts], keiner / die Taschen, außer Spatz und Feldmaus / und dem Kind, das kniet und staunt.“ Séptimas ist Vieles: eine Meditation über die Conditio humana, eine Litanei für Verstorbene und eine Danksagung an Pflanze und Tier, die Schutz und Gesundung bieten: „kaum traf / sein Blick einen Mistkäfer, eine Schwalbe,/ mittags das Zickzackspiel der Fliegen, / war er gesund und hellwach.“ Und: „ich blieb / lang allein mit den Bäumen. / Sie schützten mich, sie sprachen mir zu / bis die Düsternis schwand, bis ich sang, / mit neuen Liedern heimkam.“Aus Anders’ Séptimas spricht eine große Naturverbundenheit. Er präsentiert einen aktualisierten Begriff des Naturschönen, der genauso einleuchtend ist, wie es Krechels Gründe sind, bestimmte Konstruktionen der Schönheit abzureißen.Placeholder infobox-1