Sie schreien noch zu leise

Polen Eine Verschärfung des Abtreibungsrechts wurde vorerst gestoppt. Aber auch so leiden viele Frauen
Ausgabe 41/2016
Vor diesen Massen knickte die polnische Regierungspartei PiS ein
Vor diesen Massen knickte die polnische Regierungspartei PiS ein

Foto: Janek Skarzynski/AFP/Getty Images

"Ihr werdet uns nicht verbrennen, ihr werdet uns nicht alle verbrennen. /Gib mir die Hand, eine Frau neben der anderen. / Wir sprechen noch zu leise, wir schreien noch zu leise." Diese Zeilen stammen aus einem Lied von El Banda, einer polnischen Punkgruppe. Es wurde eigens für den "Schwarzen Montag" geschrieben. Mehrere zehntausend Frauen und Männer streikten und demonstrierten am 3. Oktober gegen die Verschärfung des Abtreibungsverbots. Der Streik erreichte in Polen die entlegensten Ortschaften, in zahlreichen europäischen Städten wurde solidarisch mitdemonstriert.

Die Demonstrantinnen trugen schwarz, um symbolisch den Untergang ihrer Entscheidungsrechte zu betrauern. Denn am 22. September hatte das polnische Parlament (Sejm) einen Gesetzesentwurf für ein komplettes Abtreibungsverbot in erster Lesung angenommen. Die konservative Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) hat im Parlament die Mehrheit. Der Entwurf definierte Abtreibung als Tötung, die mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Die massiven Proteste zeigten aber Wirkung: Drei Tage nach dem „Schwarzen Montag“ berief das Parlament eilig eine Sitzung ein und verwarf den Gesetzesentwurf in zweiter Lesung. „Wir müssen verschiedene Meinungen zu diesem Thema respektieren”, tönte Ministerpräsidentin Beata Szydło überraschend. Auch der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński verteidigte den Seitenwechsel – obwohl er sich bis dahin stets als Befürworter eines absoluten Abtreibungsverbots hervorgetan hatte.

Belohnung für die Kirche

Die Debatte traf das Parlament keineswegs unvorbereitet. Bereits im April entfachte der Gesetzesentwurf landesweite Proteste. Erarbeitet wurde er von dem zwielichtigen Institut „Ordo Iuris“, einer Gruppe erzkonservativer Juristen, deren Finanzierung undurchsichtig ist. Zum Wahrzeichen der Demonstrationen wurde ein Kleiderbügel aus Metall: eines der Instrumente, die von verzweifelten Schwangeren benutzt werden, um die Fruchtblase zu öffnen. Und das ist heute immer noch Alltag: Das geltende Abtreibungsrecht ist eines der strengsten in Europa. In Polen können Frauen nur in drei Ausnahmefällen abtreiben: Nach einer Vergewaltigung, wenn der Embryo eine schwere Behinderung hat oder das Leben der Mutter in Gefahr ist.

Seinen Ursprung hat dieses Gesetz in den turbulenten Jahren kurz nach der Wende. 1993 fühlte sich die damalige Regierung verpflichtet, die Kirche für ihr politisches Engagement in Zeiten der Solidarność zu entlohnen – und erarbeitete ein Gesetz, mit dem das bis dahin geltende liberale Abtreibungsrecht massiv verschärft wurde. Die Kirche verlangte ein absolutes Abtreibungsverbot. Man einigte sich schließlich auf die drei Ausnahmefälle.

Heute erscheint das 1993 eingeführte Abtreibungsgesetz im Vergleich zu dem jetzt debattierten Entwurf beinah moderat. Doch in Wirklichkeit war und ist der Zugang zu Abtreibung selbst bei den erlaubten Ausnahmen weitestgehend versperrt. Viele polnische Ärzte berufen sich nämlich auf die Gewissensklausel und verweigern den Schwangerschaftsabbruch selbst bei einer Gefährdung der Gesundheit der Mutter oder einer Missbildung des Fötus.

Dafür haben die Ärzte großen Rückhalt in der Bevölkerung. Denn in den vergangenen 30 Jahren fand unter dem Einfluss der katholischen Kirche ein Wandel statt – etwa im Sprachgebrauch: Die Bezeichnungen „Embryo“ oder „Fötus“ wurden in den Medien gestrichen, stattdessen sprach man ab dem Moment der Einnistung der befruchteten Eizelle von einem Kind.

In der Folge wurde der Schwangerschaftabbruch zum „Mord am Kind“. Auf Plakaten und in TV-Debatten war verschiedentlich von einem „Holocaust an wehrlosen Kindern“ die Rede. Die Mutterschaft hingegen wurde hochstilisiert. So kam 2012 ein Film über das Schicksal von Agata Mróz-Olszewska in die polnischen Kinos: Die bekannte Volleyballspielerin litt an Krebs und wurde schwanger. Obwohl eine Abtreibung medizinisch angezeigt war, entschied sie sich dagegen und opferte ihr Leben für das des Kindes. Katholische Fundamentalisten feierten sie für ihre Opferbereitschaft.

Aber wenn sich Ärzte auf ihr Gewissen berufen und Abtreibungen verweigern, führt das zu Schicksalen wie jenem der 25-jährigen Agata Lamczak. 2004 verweigerte ein Arzt ihr die Behandlung eines Darmgeschwürs, weil das dem Fötus hätte schaden können. Er verabreichte ihr rezeptfreie Schmerztabletten und beschied ihrer Mutter, sie kümmere sich zu sehr um „ihren eigenen Hintern“. Agata Lamczak starb wenig später qualvoll.

In anderen Fällen rieten Ärzte Frauen mit schwer missgebildeten Föten, dennoch natürlich zu gebären. So geschah es kürzlich in einer Klinik in Warschau, wo ein Arzt einer Patientin den Abbruch verweigerte, obwohl dem Embryo die Hälfte des Gehirns fehlte. Er hatte keine Schädeldecke und sein Gesicht war gespalten. Das Kind starb kurz nach der Geburt und die Mutter erlitt ein schweres Trauma. Auf diese Weise „rettete“ dieser Arzt schon viele schwer behinderte Embryos vor der Abortion.

Klage in Straßburg

Der Fall von Alicja Tysiąc verursachte im Jahr 2000 ein kurzes mediales Gewitter. Sie war zum dritten Mal schwanger und lief Gefahr, bei einer Austragung zu erblinden. Doch das Attest ihrer Ärztin wurde durch den Chefarzt des Krankenhauses nicht anerkannt. Tysiąc war gezwungen, das Kind zu gebären. Nach der Niederkunft verschlechterte sich ihre Sehkraft massiv, so dass sie arbeitsunfähig wurde. 2003 reichte sie beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eine Klage gegen den Staat Polen ein, die vier Jahre später Erfolg hatte: Der Staat wurde zu einer Schadenersatzzahlung von 25.000 Euro verurteilt.

Trotz all dieser Widrigkeiten: Laut Statistiken von Nichtregierungsorganisationen haben 25 bis 33 Prozent aller Polinnen schon mal abgetrieben. Die meisten illegal. Der Markt für illegale Abtreibungen boomt – fast in jeder polnischen Zeitung sind Inserate von Gynäkologen zu finden, die anbieten, die Menstruation zu „regulieren“. Dafür zahlen die Frauen den bis zu zehnfachen Betrag einer legalen Abtreibung. Wer es sich leisten kann, reist für den Eingriff gleich ins Ausland.

Doch eine illegale Abtreibung kann auch später noch auf die Frau zurückfallen: Wenn nach dem Eingriff Komplikationen auftreten, ist sie gezwungen, bei Kontrollen zu lügen oder den Arzt zusätzlich zu bezahlen, um ihr Geheimnis zu hüten. Deshalb führen nach Untersuchungen einer polnischen NGO jährlich cirka 50.000 Polinnen den Abbruch zu Hause durch. Sie kaufen sich im Internet die „Pille danach“ und müssen in Kauf nehmen, dass die Tabletten gefälscht sein könnten oder nicht schnell genug versandt werden. Manche wiederum greifen zu rabiateren Methoden – etwa zum Kleiderbügel.

Es ist daher erstaunlich, dass erst jetzt ein massiver Protest entfacht wurde. Doch die konservative Familienpolitik verfängt nicht nur rechts außen. Betroffene Frauen konnten bisher mit keinerlei Unterstützung seitens politischer Parteien rechnen. Weder die liberale Platforma Obywatelska (PO) noch die linken Parteien zeigten sich solidarisch, sie unterstützten keinerlei Liberalisierungsversuche.

Es ist nicht zuletzt polnischen Emigrantinnen zu verdanken, dass der Protest nun Form annimmt. Es sind die Frauen, die in deutschen, englischen oder skandinavischen Krankenhäusern mit Würde und Respekt behandelt wurden, die das Problembewusstsein dafür zurück in die polnische Gesellschaft tragen. Die linke Aktivistin Barbara Nowacka schlug am 1. Oktober vor dem Sejm denn auch eine neue Taktik vor: Die Europäische Union soll die Polinnen bei der Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs unterstützen.

Nach dem Zurückrudern des Parlaments scheint die Gefahr eines absoluten Verbots vorerst gebannt. Die regierende konservative Partei PiS arbeitet daran, eine abgemilderte Version der Gesetzesänderung vorzubereiten. Damit könnte sie sich dann trotz einer Verschärfung des Gesetzes noch als Verteidigerin der Frauen aufspielen.

Für die polnischen Frauen wäre aber jede Verschärfung fatal. „Es geht hier um die unmenschliche Diskussion über die biologische Nutzbarkeit der Frauen für die Nation”, sagte die Publizistin Eliza Michalik der Tageszeitung Gazeta Wyborcza. „Es ist ein Versuch, uns zu Inkubatoren, Untergebenen und Leibeigenen zu machen, die gegen ihren Willen Kinder gebären müssen.“ Angesichts der Gegebenheiten findet die Frauenrechtsaktivistin Beata Kozak die Demonstrationen vom 3. Oktober deshalb noch viel zu klein: „Ein paar zehntausend Leute: Das sind zu wenige für einen Staat, der 38 Millionen Einwohner hat. Und wir brauchen stärkere Aktionen, als uns einfach nur schwarz zu kleiden und dem Arbeitsplatz fernzubleiben.“

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