Sparwut von Präsident Javier Milei: Die wachsende Armut in Argentinien ist gewollt
Rosskur Die Proteste gegen die Regierungspolitik werden heftiger. Hunderttausende waren zuletzt auf der Straße. Wer sich umschaut, trifft auf Anhänger der radikalen Sparpolitik und Menschen, die sich dem sozialen Aderlass und Abstieg widersetzen
Suppenküche wie diese gibt es viele in Loma Hermosa in Buenos Aires
Foto: Juan Mambromata/AFP via Getty Images
Matias Contreras zählt zu diesen Servicekräften, die ein Gefühl von Geborgenheit auslösen können. Der 30-Jährige betreibt mit einer Freundin ein kleines Café in Luján, einer Kleinstadt am Rand der Anden. Die beiden sind Konditor, Kellner und Reinigungskraft zugleich. Was sie verdienen, reicht für keinen Angestellten. Contreras würde gern nach Frankreich oder Italien reisen, um mehr von der dortigen Küche zu lernen, aber er bleibt in Argentinien. Wegen seiner Familie, die er mit Geld für Lebensmittel unterstützt. „Ich muss zweimal im Monat die Preise erhöhen, im Januar war es besonders krass. Zwei Freunde hatten Geburtstag, und ich konnte ihnen kein Geschenk kaufen.“
Er weiß, dass er durch seine Selbstst
Selbstständigkeit in einer besseren Lage ist als viele Landsleute, deren Gehälter von der Inflation abgehängt werden. Derzeit sind 924 Pesos für einen Euro fällig. Obwohl die Abwertung des Pesos – zuletzt um mehr als 50 Prozent – nichts verbessert hat, hofft Contreras, dass die drakonische Sparpolitik von Präsident Javier Milei Wirkung zeigt. Er möchte gegen Ende unseres Gesprächs nicht, dass ich ihm seinen Orangensaft ausgebe.Am Obelisken mitten in Buenos Aires, wo Menschen Kokainabfälle rauchen und Mütter mit Kleinkindern auf der Straße leben, wohnt Nicolas Fernández im „Ideal Social Hostel“. In der Provinz von Tucumán besitzt er ein Fitnessstudio und ist wegen einer Sportmesse in der Hauptstadt. Er fragt höflich, ob die argentinische Begrüßung mit einem Wangenkuss genehm sei. Ja, er setze auf Milei, weil er das Streichen von Subventionen für unumgänglich halte, um die Inflation zu senken. Auch seien für ihn die vielen informellen Jobs problematisch, mit denen sich gut die Hälfte aller Beschäftigten über Wasser halte, von denen – so vermute er – einige trotzdem Arbeitslosenhilfe beantragten. „Ich bin auf eine harte Zeit eingestellt und hoffe, dass dieses Land langfristig zu alter Größe zurückfindet“, sagt er mit ernstem Gesicht.Zwei Stunden Arbeit für ein Kilo ReisDer Besitzer des Hostels, der nicht unbedingt von Milei überzeugt ist, hat lediglich eine Rezeptionistin regulär angestellt. Die anderen sieben Personen, die für ihn putzen, Betten machen, kochen und kellnern, sind Volunteers, die als Gegenleistung für ihre Arbeit umsonst in einem fensterlosen Mehrbettzimmer übernachten dürfen, sonst kaum etwas verdienen.Auf dem Campus der UADE, einer modernen Privatuniversität für vornehmlich wirtschaftliche Fachrichtungen, sind einige Studenten von Javier Milei durchaus angetan. Sie sind hip gekleidet und Kinder von Anwälten, Ärzten oder Unternehmern, können mühelos die Studiengebühren bezahlen und halten ihr Mitgefühl für all jene in Grenzen, die unter den ständigen Preisschüben leiden. Ein Milei-Anhänger sagt: „Sie sollten arbeiten gehen.“Nur zu welchen Bedingungen? In Argentinien liegt der monatliche Mindestlohn seit März bei 202.000 Pesos (212 Euro), einen entsprechend festgelegten Stundenlohn gibt es nicht, was zur Folge hat, dass Menschen teilweise für 1.000 Pesos pro Stunde in einer Bar oder einem Bistro ihr Glück versuchen. Da 250 Gramm Butter momentan 2.640 Pesos kosten, müssen sie dafür dann mehr als zwei Stunden arbeiten, für ein Kilo Reis (1.890 Pesos) knapp zwei Stunden, für einen Liter Milch (1.269 Pesos) mehr als eine Stunde. Oder für eine Schachtel Sonnencreme der Marke La Roche-Posay (40.000 Pesos) 40 Stunden, sprich: eine Woche.Argentiniens Universitäten geht das Geld ausDa Verarmung offenbar gewollt ist, betreiben Mitarbeiter der mittlerweile geschlossenen staatlichen Nachrichtenagentur Télam dazu einen Informationsstand in San Telmo, einem Szeneviertel von Buenos Aires. Besucher eines Kunstmarktes in der Nähe bleiben immer wieder für ein Gespräch stehen. Der Journalist Gabriel Gonzalez vermutet Zensur als Ursache für die Schließung der Agentur. „Dabei haben wir sämtliche Politiker kritisiert und sind die Einzigen, die aus allen Provinzen des Landes berichtet und ein realistisches Bild der Lage gezeichnet haben.“Nicht weit entfernt ist in der Innenstadt der Gesang von Demonstranten zu hören. Dunkel gekleidete Künstler haben den Verkehr blockiert, Scharen von Autos hupen. Der 20-jährige Theaterstudent Braulio Vega Santana gehört zu den 200 Angestellten des Instituto Nacional de Cine y Artes Audiovisuales (INCAA), die wegen der akuten Sparmaßnahmen ihre Arbeit verloren haben. Das trifft viele ältere Kollegen, die Familien durchzubringen haben. Braulio hat neben seinem Studium 35 Stunden wöchentlich bei INCAA gearbeitet und 400.000 Pesos im Monat verdient. Während sich die Miete für sein WG-Zimmer in einem Jahr verdreifacht habe, erzählt er, stieg sein Einkommen nur um das „beinahe Doppelte“. Er müsse sich dringend um neue Arbeit kümmern, sein Vater, der in einer Bekleidungsfabrik arbeite, könne ihm nicht helfen. Für Braulio sind die Kürzungen beim Filminstitut ein kultureller Verlust, weshalb sie weiterkämpfen würden, bis alle ihren Job zurückbekämen oder Milei weg sei. Er gehe nicht davon aus, dass sich demnächst etwas zum Besseren wenden werde.Auch Val Gomez, eine 24-jährige Soziologiestudentin mit rosa gefärbten Haaren, rechnet nicht damit und ist wütend. Wegen der Budgetkürzungen reiche das Geld der sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Universität von Buenos Aires nur noch bis Juni, danach werde es nicht mehr möglich sein, Angestellte zu bezahlen und Räume zu warten. Allein wegen der verteuerten Lebenshaltung könnten immer weniger junge Argentinier studieren. Val Gomez arbeitet ebenfalls nebenher in einer Bar. Sie esse ab Mitte des Monats nur noch Reis und Nudeln. „Man brauchte das Dreifache an Geld, um gut leben zu können. Wir kaufen trotzdem Zigaretten, denn in diesem Land muss man rauchen, um es auszuhalten. Die Inflation ist nur eine Zahl auf dem Bildschirm, mich interessiert der Reis auf meinem Teller.“ Hoffnung mache ihr Argentiniens starke Zivilgesellschaft, die in der Vergangenheit manchen Umsturz bewirkt habe.Folgen von Javier Mileis SparkursYasmin und Sergio verkaufen selbst gefertigte Armbänder und wohnen mit einem Cousin wie dessen Tochter in Pilar, einem ruhigen Vorort von Buenos Aires. Obwohl die Außenwände des Wohnhauses nicht verputzt sind, strahlen die Innenräume durch selbst gemalte Bilder Wärme aus. Am Abend werden in diesem Haushalt die Einkünfte des Tages zusammengelegt, um Essen zu kaufen. Der Auflauf aus Püree und Hackfleisch wird mit Linsen zubereitet, die billig sind. „Argentinien war immer ein sozialistisches Land, und wir werden uns unsere Rechte als Frauen nicht nehmen lassen“, meint Yasmin kämpferisch. Javier Milei sehe keine Menschen, der sehe nur Zahlen.Bevor dieser Präsident antrat, gab es einen offiziellen Kurs von 391 Pesos zu einem Dollar und einen „blauen Kurs“ auf dem Schwarzmarkt von 800 zu 1. Nun hat die Angleichung des offiziellen und informellen Wechselkurses dazu geführt, dass sämtliche Preise heftig nach oben gingen. Die Bewohner von „Villa 31“, einem Armenviertel, das sich hinter dem Retiro-Bahnhof in Buenos Aires versteckt, sind von den Preissprüngen stark betroffen. Etwa 40.000 Menschen leben in diesem Quartier, in dem enge Gassen zwischen bunten Häusern verlaufen, die an gestapelte Würfel erinnern. Manche Passanten sehen unterernährt aus, andere überraschend bürgerlich. Kinder mit blauen Kitteln kehren aus der Schule zurück und bevölkern die Straße. Wer die Bewohner anspricht, bekommt zu hören, dass wegen der Arbeit keine Zeit für Gespräche sei, doch sind Läden für Handyzubehör ebenso leer wie Imbissstände. Beim Friseur sitzen vier Männer im Salon, aber keine Kunden.In La Boca, einem anderen, vergleichbar einkommensschwachen Viertel mit bunten Häusern, das als Touristenattraktion gilt, steht Marcellas Tür offen. In einem Raum mit Zementboden, Bänken und Regalen voller Bücher kocht die blonde Mittvierzigerin mit anderen Frauen für die Kinder aus der Nachbarschaft. Reggae-Musik steht im Raum. Derartige Gemeinschaftsküchen, die „Merenderos“, haben in Argentinien eine lange Tradition. Die Frauen hier sind ansonsten Friseurinnen oder Kosmetikerinnen. Augustina arbeitet gerade an einer Haarverlängerung, mit halb frisiertem Kopf zeigt sie das Spielzeug, das sie für die Kinder gesammelt haben und aufbewahren. Die Situation für diese Tafel der Bedürftigen habe sich in den vergangenen Wochen kaum verändert. „Ich erwarte nichts von dieser oder irgendeiner anderen Regierung, die Menschen müssen sich gegenseitig helfen. Was sonst?“ – findet Marcella.
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