Porträt Feindliche Architektur und gefährdete Sexarbeiterinnen: Das Leipziger Performance-Kollektiv Studio Urbanistan erzählt Geschichten aus der Stadt, die sonst unsichtbar bleiben
Mit dem Hinweis „Einmal kräftig anklopfen, dann sofort reingehen“ betritt man bei der Perfomance „Next Door“ diese Wohnung in Leipzig
Foto: Mim Schneider
Sehen Sie die kleinen silbernen Kugeln auf den Steinvorsprüngen in der Stadt? Oder die Metallbügel, die Bänke in kleine Kompartments teilen? Solche Designs bestimmen, wer in der Innenstadt Platz hat und wer nicht. So verhindert feindliche Architektur, dass Skateboarder:innen über Kanten gleiten und sich Wohnungslose auf Bänken ausstrecken können. Nach dem Audio-Walk Speak to me, place! erkennt man die Ein- und Ausschlussmechanismen in der Leipziger Fußgängerpassage plötzlich überall. Geschickt lenkt das Kollektiv Studio Urbanistan Füße und Blicke auf die abseitigen Pfade.
Während die Teilnehmer:innen per Kopfhörer durch die Straßen und Passagen gelotst werden, verschwimmt die Grenze zwischen geplanten Situationen und
ten Situationen und zufälligen Begegnungen. Bei ihren Performances und Walks im öffentlichen Raum wiederholen sich häufig die Probleme, die Julia Lehmann und Clara Minckwitz bearbeiten wollen, erzählen die zwei Theatermacherinnen. Nach dem Gang durch die Innenstadt berichteten einige Teilnehmer:innen von einer Begegnung mit dem Ordnungsamt, das wissen wollte, was es mit dem ungewöhnlichen Grüppchen auf sich habe. So engmaschig wird auffälliges Verhalten in der Öffentlichkeit kontrolliert.Die Arbeit im öffentlichen Raum bleibt immer ein Wagnis. Genau dieses Zusammenspiel von der sozialräumlichen Wirklichkeit mit der fiktiven Ebene eines Walks interessiert das Kollektiv. Das „Label für performative Zwischenfälle im urbanen Raum“, so die Selbstbeschreibung, verwandelt in ortsspezifischen Arbeiten beispielsweise die Plattensiedlung in Leipzig-Grünau oder die Musterstadt Hellerau in sprechende Kulissen. Gemeinsam mit O-Tönen von den Expert:innen des Alltags, wie Anwohner:innen oder Nutzer:innen der Orte, beginnen diese, ihre Geschichte zu erzählen. Ob ablehnend oder zustimmend, wer in der Großwohnsiedlung im Leipziger Westen lebt, muss sich zu dem Stigma „Block“ verhalten. In der Arbeit Looking at the window is like looking inside you von 2016 legt sich darüber das Versprechen vom fortschrittlichen Wohnen, für das die Neubauten in der DDR standen. Die Realität versteckt sich in den einzelnen Lebensgeschichten, irgendwo zwischen Zukunftsversprechen und Sackgasse. Studio Urbanistan macht sich in den Schilderungen der Realität auf die Suche nach utopischen Einsprengseln.„Der Ort kann viel mehr Unerwartetes erzählen, als wenn wir uns einfach auf die Bühne setzen“, beschreibt Minckwitz die Herangehensweise. Deshalb stehen der Ort und das Thema immer am Anfang ihres Recherchetheaters. Davon ausgehend macht sich das Kollektiv auf die Suche nach den Stimmen, die in diesen Räumen ihren Alltag verbringen und oft selbst nicht zu Wort kommen. Nachdem Minckwitz und Lehmann bereits als Teenager gemeinsam in der Schotte, einem Erfurter Kinder- und Jugendtheater, auf der Bühne standen, trafen sie 2012 in Leipzig wieder aufeinander und beschlossen, zusammenzuarbeiten. Für ihr erstes gemeinsames Projekt sammelten die Leipzigerinnen O-Töne von Asylsuchenden, die darüber sprachen, welche Orte für sie in der Stadt wichtig sind. Während rechte Demonstrationen gegen dezentrale Unterkünfte organisiert wurden, bereitete das Kollektiv eine Stadtrundfahrt vor, in der „Alteingesessene“ zu Touristen an ihrem Wohnort werden.In reisegruppe heim-weh! steuert der Reisebus mit Zuschauer:innen und den Expert:innen des Alltags keine Sehenswürdigkeiten an. Kilometer für Kilometer entfernen sie sich vom Stadtzentrum bis in die Torgauer Straße 290. Obwohl die schlecht angebundene Gemeinschaftsunterkunft schon vor neun Jahren wegen der desolaten Zustände geschlossen werden sollte, bringt die Stadt dort noch immer Menschen unter. Nur beiläufig erwähnt einer der Reiseleiter, dass er dort wohnt. Lehmann und Minckwitz wollten diesen Ort nicht wie eine Attraktion inszenieren, die angestarrt werden darf. Vielmehr geht es darum, mit Deutungshoheit zu spielen.Neben den intimen und selten gehörten Geschichten, die oftmals anonymisiert zu hören sind, interessiert sie die soziale Konstellation in der Aufführung. „Es ist immer unser Ziel, Menschen erst mal in eine Situation reinzuwerfen“, erklärt Lehmann. Sei es die Konfrontation mit Polizei- und rechter Gewalt in der Performance The Sunset Looks Violent oder die sexualisierte Gewalt, die Sexarbeiter:innen erleben – Studio Urbanistan wählt sich keine leichten Stoffe aus. Komplexe Bilder konstruieren sie aus Interviewcollagen und kleinen Performanceaktionen. Eine moralisierende Einordnung oder Debattenrekonstruktion bleibt häufig aus. Sie positionieren sich in den Konstellationen ihrer Zeugnisse, ohne die Widersprüche darin aufzuheben.Die Konfrontation mit Unerwartetem soll die Zuschauer:innen dazu veranlassen, selbst eine Position einzunehmen. „Einmal kräftig anklopfen, dann sofort reingehen“, ist der einzige Hinweis, der bei der Performance Next Door mit auf den Weg gegeben wird. Allein oder zu zweit tritt man daraufhin in eine Leipziger Wohnung. Via Telefon bittet eine Sexarbeiterin die Besucher:innen, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Die Anspannung steigt, bis sich die Haustür öffnet und eine Person mit Reitstiefeln eintritt. Sie zeigt an, dass man ihr in ein angrenzendes Zimmer folgen soll, um dort auf dem runden Bett Platz zu nehmen. Gleich daneben packt sie schweigend ihre Tasche: Handschuhe, zwei Dildos, eine schwarze Lederpeitsche.Geschichten statt DebattenDie intime Performance verbindet Erzählungen über den Arbeitsalltag von Personen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, mit der Spannung zwischen der durch den Abend führenden Performerin und Sexarbeiterin und den Teilnehmer:innen. Während sie an einer Polestange tanzt oder nackt vor einem Computer Anfragen beantwortet, fragt man sich: Wie kann ich sie anblicken? Und dabei nicht zur Voyeurin werden? Aus einem feministischen Impuls nahmen sich Lehmann und Minckwitz des Themas an, verzichteten bewusst auf eine Rekonstruktion der Debatte und wandten sich lieber an Verbände und Arbeiter:innen, um ihre Geschichte nachzuvollziehen. Zu Momenten der Ermächtigung, die die Befragten in ihrer Tätigkeit erleben, kommt immer die patriarchale Gewalt, die ihnen in Abwertung, staatlichen Hürden und Übergriffen begegnet.Nicht nur an bestimmten Orten, auch am Thema Arbeit entzündet sich das Interesse des Kollektivs. In ihrer aktuellen Performance, die zusammen mit dem Leipziger Theater Lofft entstand, beackern sie Sorgearbeit, die nicht oder kaum bezahlt wird. Baggern, die wohl persönlichste Inszenierung, wie die Performerinnen mit einem Lachen feststellen, dreht sich um Elternschaft. Um Distanz zu ihren Erfahrungen mit den eigenen Kindern zu schaffen, suchte das künstlerische Team Geschichten außerhalb ihrer Bubble. Ausgestattet mit Kopfhörern nimmt das Publikum auf einer Brache Platz und lauscht der entstandenen Collage.Kinder zu haben nervt. Ständig fordert jemand deine Aufmerksamkeit, alle sagen dir, wie du dich als Mutter zu verhalten hast, und der Kapitalismus erwartet von Frauen, dass sie die Sorgearbeit unbezahlt erledigen. Sich aufzuopfern soll Freude oder gleich die weibliche Erfüllung bringen. Das ist essenzialistischer Bullshit. Wie sich die Elternteile wirklich fühlen, könnte nicht weiter davon entfernt sein. Wütend, verzweifelt und gelangweilt sind sie in der Rolle der Sorgeberechtigten, aber das öffentlich zu sagen, trauen sie sich oft nicht.Drei Bagger, geführt von Katharina Bill, Clara Minckwitz und Clarissa Schneider, tanzen ein graziles Ballett und buddeln die verschütteten Ängste und vergrabenen Zweifel aus dem Erdreich. In Kreisen ziehen sie über den staubigen Platz, heben in fein abgestimmten Choreografien die Metallarme und entleeren den verborgenen Inhalt der Schaufeln. Dieser so verletzlich wie kraftvoll wirkende Baumaschinentanz ist die perfekte Synthese aus den pinken und hellblauen Schubladen, in die Menschen von Geburt an gesteckt werden. Hier trifft das Reden über unsichtbare Sorgetätigkeit auf die brachial sichtbare und männlich konnotierte Arbeit auf der Baustelle. Die starke Allegorie des Baggers lockert die breit ausgewählten Geständnisse zur eigenen Elternrolle auf, die oft schwer zu verdauen sind.Einen witzig altklugen Appell formuliert dazu Mathilde Lehmann. Das etwa zwölfjährige Kind tritt nach vorn an das Mikrofon, um Manifeste gegen Kapitalismus und Patriarchat zu verlesen. Sie weiß, was gegen die Verhältnisse hilft: Die heteronormative Paarbeziehung sprengen und feministische Wahlfamilien bilden. Sie spricht das aus, was in den Collagen der Wirklichkeit immer mitschwingt: Wie die Welt ist und wie sie verändert werden sollte.