A
Atlas Dieser Atlas aus der griechischen Mythologie kann einem leidtun: Er trägt die ganze Welt auf seinen Schultern. Und trotz dieses Knochenjobs schien sich keiner wirklich zu interessieren für den geknechteten Riesen. Zumindest bis die russisch-amerikanische Philosophin Ayn Rand (➝ Zugezogene) ihr literarisches Hauptwerk Atlas wirft die Welt ab (1957) taufte. Die Kapitalistin rekurrierte auf die mythologische Figur, um ihre Ablehnung der Selbstlosigkeit zu verbildlichen. Denn welchen Tipp soll man Atlas geben, dem das Blut über die Brust rinnt, dessen Knie einknicken, dessen Arme zittern und der dennoch versucht, die Welt mit letzter Kraft hochzuhalten? Ayn Rand hatte eine einfache Antwort: Er solle einfach „mit den Schultern zucken“. Deswegen heißt ihr Roman im englischen Original auch Atlas Shrugged (dt. „Atlas zuckt mit den Schultern“). Das Buch wurde mehr als sieben Millionen Mal verkauft und ist in den USA das einflussreichste Werk aller Zeiten – nach der Bibel. Dorian Baganz
E
Entwicklungshemmnis In der Literatur gibt es das Untergenre der Autobiografien von Autisten. Zu Berühmtheit gelangte Birger Sellins Buch Ich will kein Inmich mehr sein: Botschaften aus einem autistischen Kerker. Da Sellin sein Werk mit der „gestützten Kommunikation“ schuf, war es umstritten. Bei dieser Methode wird der Schreibende von einem „Stützer“ berührt, der die jeweiligen Bewegungsimpulse zu vor ihm ausgebreiteten Buchstaben oder dem ganzen Alphabet spürt und die Hand dahin führt. Mit dieser Methode haben Sellins Eltern es geschafft, mit ihrem stummen Sohn zu kommunizieren. Bei einem literarischen Werk ist jedoch nie geklärt, ob ein Text vom „Stützer“ oder vom „Gestützten“ stammt (➝ Freunde). Doch ist es unglaubwürdig, dass eine Hilfskraft zu solch einer – von der Krankheit geprägten – Sprachmacht in der Lage ist. Marc Ottiker
F
Freunde Die gute Freundin verloren zu haben, hat mich meiner Stützen beraubt – so sehr, dass ich manchmal dachte, der Boden bewege sich. Menschen sollten lernen, Freundschaften als die wahren Stützen des Lebens zu erkennen. Denn das Subjekt kann, so sehr es das auch will, zwar nicht mit anderen verschmelzen, aber die Handreichung mit wohlwollenden Menschen, die einen fördern und fordern, kann das Stützgerüst für ein erfülltes und andere ebenso erfüllendes Leben sein. Wenn aber eben die Freundschaft bricht, kann es einen selbst umso mehr aus der Bahn werfen (➝ Hartz IV). Sollte man daher auf Freundschaften verzichten oder das fragile Konstrukt der Bussi-Bussi-Schickeria leben, die mit ihrem Weinglas enger ist als mit ihren „Freunden“? Nein. Denn ebenjene Schickeria fühlt eine dauerhafte Leere im Sein, die kein Event und kein Konsum jemals füllen kann. Deswegen wollen diese Menschen auch ewig leben. Man muss bereit sein für Verwundungen durch den Fortgang der Dinge. Leben ist ein Glücksspiel ohne Regeln – ein erfülltes wohl umso mehr. Doch wer keinen Preis zu zahlen bereit ist, auf den wird niemand zählen. Jan C. Behmann
G
Gesang Die berühmte „Atemstütze“ macht die Stimme – auch das Sprechen – zum Instrument. Ohne sie klingen Stimmen verhaucht, gehen unter oder werden schrill und unangenehm, was oft der Botschaft im Wege steht. Nicht erst seit ich vor Jahren nach einer durchgröhlten Nacht weder sprechen noch singen konnte (ein Stimmbandpolyp!), interessiert mich dieses Thema. Allerdings ist das Stützproblem unter Expert:innen umstritten: Es soll nicht nur Technik sein, sondern erreichter Zustand. „Atemstütze“ sei preußisches ➝ Korsett, während das englische „support“ oder das italienische „appoggiare la voce“ (die Stimme anlehnen) viel freundlichere Assoziationen wecke. Magda Geisler
H
Hartz IV Liebevoll nannte man vor Hartz IV das Arbeitslosengeld „Stütze“. Das war natürlich ein Euphemismus, denn damit kam man auch eher schlecht als recht durchs Leben. Allerdings existierten vor 2005 noch nicht jene Sanktionen, Zumutbarkeitsregeln und andere Daumenschrauben, die mit Hartz IV eingeführt wurden (➝ Korsett). Die Pflicht, jeden Job zu jeder Kondition anzunehmen, und die permanent drohende Kürzung der sogenannten Mindestsicherung lassen jeden Moment vermissen, eine wirkliche Unterstützung zu sein. Das haben die Menschen alsbald gemerkt. Zeit für eine Grundsicherung, die den Namen wirklich verdient! Tobias Prüwer
K
Korsett Die Idee einer durch Schnürung geformten, gesellschaftlich erwünschten Silhouette reicht bis ins 12. Jahrhundert. Damals begann der Adel zugunsten einer klaren femininen Kleidungsweise eher androgyne und geschlechtsneutrale Damengewänder auf Taille zu bringen. Als Stütze pressten Korsetts modernerer Natur Frauenkörper immer rücksichtsloser – mal mit hartem Leder, Eisen oder mit Bleiplatten – in die gewünschte Form. Das im Militär verbreitete Herrenkorsett, ein unter dickem Stoff verborgenes Mieder, stütze die ideale schneidige Körperhaltung (➝ Militärbasis). Mit dem Ersten Weltkrieg begann dann der breitenwirksame Niedergang des Korsetts. Für immer mehr berufstätige Frauen impraktikabel und unvereinbar mit einem neuen Rollen- und Körperbild, finden hingegen Korsetts zur Korrektur von Haltungsfehlern oder zum Stützen des Wirbelapparats in der Medizin nach wie vor sinnvolle Anwendung. Helena Neumann
M
Militärbasis Man könnte spekulieren, dass der Stützpunkt seinen Namen daher trägt, weil er eine befestigte Militärbasis darstellt. Immerhin leitet sich „Stütze“ von einem alten Wort für Pfosten ab. Dann wäre es ein mit Pfosten – ähnlich einem Fort – fortifizierter Ort. Dagegen spricht das späte Auftauchen des Stützpunkts im Deutschen. Zedlers Universallexikon aus dem 18. Jahrhundert kennt die Verwendung noch nicht. Dafür findet sich ein ausführlicher Eintrag im ein Jahrhundert später begonnenen grimmschen Wörterbuch. Dort wird der Stützpunkt definiert als konkreter Ort, auf dem eine Last ruht (➝ Entwicklungshemmnis). Das wird dann aufs Militärische übertragen, wo strategische Orte und „Kraftzentren“ damit bezeichnet werden. Beispiel: „Wie eine Oase lag dazwischen als Stützpunkt und als Waffenplatz preußischer Rüstung die feste Colberg.“ Ein Punkt kommt selten allein. Ganze „Stützpunktgruppen“ forderte Hindenburg für die Verteidigungsanlagen der Zukunft. Tobias Prüwer
R
Rollator Die Boomer kommen in die Jahre – und nicht alle von uns müssen wie Mick Jagger über die Bühnen dieser Welt hüpfen. Die allermeisten von uns werden früher oder später Gehhilfen benötigen (➝ Würde). Doch wir werden sie genauso mit Botschaften, die etwas über unsere Persönlichkeit aussagen, versehen, wie wir das mit der Kleidung (T-Shirts) und unseren Autos (Aufkleber) gemacht haben. Wir, die erste und einzige Generation, die unbegrenzt konsumieren durfte und diese Konsumgüter zur Verlängerung unserer Persönlichkeit machte. Deshalb wird es bald mit lustigen Blumenmustern verzierte Rollatoren geben – oder welche mit Mottorradlenkern, wo aus kleinen Boxen der Soundtrack unseres Lebens erklingt. Marc Ottiker
S
Säulenordnung Fünf klassische Säulenordnungen kennt die Kunstgeschichte: die toskanische, die dorische, die ionische, die korinthische und die komposite Ordnung. Entwickelt wurden sie im antiken Griechenland (➝ Atlas) und in Rom. Schon immer waren diese Ordnungen mehr als ein Architektursystem: Sie waren Abbild einer Welt, die hierarchisch geordnet ist. Mit der Architektur der Moderne war es dann vorbei mit klassischen Maßen. Fritz Högers Chilehaus in Hamburg oder auch Fritz Schumachers Bauten lassen die klassischen Ordnungen nur noch erahnen. Die faschistische Architektur zitiert die Säulenordnungen plump und epigonal. Die Postmoderne hatte noch ironischen Spaß an der alten Idee. Doch Abbild der Welt waren die Säulen da schon nicht mehr. Marc Peschke
U
Unterhaken „Willst du nicht lieber deinen Stock in den Park mitnehmen?“, fragte ich. „Gib mir lieber deinen Arm“, antwortete meine Mutter. Anstrengend war es, sich ihren langsamen Schritten anzupassen – inzwischen ist die Nähe zu ihr nur noch gedanklich zu haben. Vielerlei Hilfsmittel gibt es, um Kranke und Schwache unabhängig zu machen. Autonomie und lebendiges Miteinander werden zum Gegensatz (➝ Würde). Bitte nimm mich in die Arme, heißt ein Kinderbuch von John A. Rowe über ein sehnsuchtsvolles Tierchen, das stachlig ist. „Darf ich Ihnen meinen Arm leihen?“ So redet heute kaum mehr jemand. Es könnte ja wie ein plumper Annäherungsversuch erscheinen. Irmtraud Gutschke
W
Würde Persönlichkeiten, die wir sind, so divers und besonders, Hauptdarsteller in den Szenarien, die wir uns auf den Leib geschrieben haben – was ist denn, wenn wir aus der Bahn geworfen werden? Ein unvorsichtiger Sprung – und der sportliche Kerl hat sich den Knöchel gebrochen. Schlimmer noch ist ein Oberschenkelhalsbruch aus heiterem Himmel. Operation, Reha, Gehübungen, Schmerzen – wie sollst du denn dann noch jenes Bild wahren, das deinem Selbst eingewachsen schien? Kannst du bleiben, die du warst, wenn du, ans Krankenbett gefesselt, auf fremde Hilfe angewiesen bist? Dass dem Alter per se Hochachtung gebührt – das gilt in Gesellschaften, die auf Kontinuität angelegt sind. Dynamik aber bringt Jugend ins Vorrecht und lässt Schwäche als Makel erscheinen. Dass Queen Elizabeth II. erstmals bei einem öffentlichen Auftritt einen Gehstock benutzte, diese Nachricht ging um die Welt. Die 95-Jährige tat es mit beneidenswerter Würde. Haltung zu wahren, das hat sie schließlich von Kindheit an gelernt (➝ Korsett). Irmtraud Gutschke
Z
Zugezogene Seit meinem vierten Lebensjahr bin ich Zugezogener. Erst ging es nach Dortmund, dann Hamburg, schließlich Berlin. Nicht selten begegneten Einheimische diesem Umstand mit spöttelndem Hohn. Immerhin, in Berlin darf ich mich – einer Thekenlegende folgend – nach 15 Jahren halboffiziell Berliner nennen. Na ja, hurra. Denn eigentlich will ich das gar nicht. Die Zugezogenen sorgen für die schönen Dinge, die den Kiez erst lebenswert machen. Sagt Mama, und die muss es wissen: Sie forscht zur Kultur der Metropole. Im Gegensatz zu den trägen „Locals“, die sich auf Schulfreund*innen und Familie stützen können, dürstet es uns nach Anschluss (➝ Unterhaken). Also strömen wir ins Nachtleben, bevölkern, bereichern und betreiben es – wir können gar nicht anders. Und wofür ist die Hauptstadt bekannt? Eben. Keine Ursache, gern geschehen. Jan Jasper Kosok
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