Unkündbar

Als Herr und Frau O. älter wurden und die Tochter auszog, brauchten sie eine Putzfrau. Auf eine Annonce in der Zeitung meldete sich eine kleine Frau: ...

Als Herr und Frau O. älter wurden und die Tochter auszog, brauchten sie eine Putzfrau. Auf eine Annonce in der Zeitung meldete sich eine kleine Frau: Frau L. Man wurde sich schnell einig, und Frau L. kam jetzt einmal in der Woche für drei Stunden und reinigte das Haus.

Nach zwei Jahren wurde die Ehefrau schwer krank. Ein halbes Jahr später starb sie.

Jetzt war Herr O. allein in seinem Haus. Er lebte zurückgezogen im vorzeitigen Ruhestand. Die Tage wurden lang und länger.

Die einzige Abwechslung bot sich jeden Dienstag. Pünktlich um neun Uhr kam Frau L. Er ließ sie herein, man trank eine Tasse Kaffee, und Herr O. verschwand für drei Stunden. Als er zurückkam, freute er sich über das frisch geputzte Haus. Frau L. war schon mit dem Bus zur nächsten Putzstelle gefahren. Manchmal lag ein Zettel auf dem Küchentisch: "Bitte Scheuermilch kaufen!"

Herr O. freute sich immer mehr auf den Dienstag. Das Kaffeetrinken dauerte länger, weil Frau L. jetzt immer Brötchen zum Frühstück mitbrachte. Er konnte mit ihr über seine Probleme und die Einsamkeit reden. Sie tröstete ihn und versuchte ihn aufzumuntern. Auch sie erzählte von sich und ihren Träumen, zum Beispiel von einem Kind oder einem schwarzen Opel Tigra.

Manchmal gingen sie nach dem Putzen gemeinsam ans Grab von Frau O. und zündeten eine Kerze an. Einmal im Monat brachte Frau L. Herrn O. Blumen mit. Frau L. lebte schwarz in Deutschland. Sie kam aus Polen und unterstützte ihre Familie. Man muss spätestens jetzt erwähnen, dass Herr O. inzwischen 60 Jahre alt geworden war. Frau L. war 28.

Mit der Zeit hatte Herr O. immer öfter Einkäufe für Frau L. zu tätigen. Bei einem bekannten Versandhaus bestellte er Kleider für sie, vom Kostüm bis zum Abendkleid. Die Rechnungen wurden mit Putzen abgegolten. Abends brachte er ihr die Sachen nach Hause. Als Dank gab es meistens eine polnische Suppe: Rote-Bete-Suppe oder Saure-Gurken-Suppe. "Suppe ist gut für die Freundschaft", sagte Frau L.

Wenn Frau L. nach Polen musste, brachte Herr O. sie zum Bus. Er war traurig, dass sie jetzt zwei Wochen nicht mehr putzen kam. Wenn sie wieder zurück war, brachte sie ihm meist Bigos mit, das polnische Nationalgericht. "Bigos ist gut gegen die Traurigkeit", sagte Frau L.

Mit der Zeit gestaltete sich die Freundschaft zwischen Frau L. und Herrn O. etwas schwieriger. Sie kam oft mit ihrem Geld nicht aus, weil sie den westlichen Verlockungen nicht standhielt. Herr O. gab Kredit, der wieder auf Monate hinaus abgeputzt werden musste. Oder die Telefonate nach Polen gingen in die Hunderte, die am Monatsende Katzenjammer bei Frau L. hervorriefen. Um die drohende Migräne bei Frau L. abzuwenden, bezahlte er die Rechnungen, nicht ohne vorher den väterlichen Freundesfinger warnend gehoben zu haben. Sie war praktisch auf Monate hinaus unkündbar geworden.

Dienstags kam es jetzt immer öfter zu Konflikten. Herr O. sagte, dass es so nicht weitergehe und er sie hiermit entlassen müsste. Nach zweistündigem Kaffeetrinken und einer abschließenden Versöhnung, die in einer Umarmung endete, stellte er Frau L. wieder ein. Zum Putzen blieb dann noch eine Stunde.

Eines Dienstags, als Frau L. klingelte, blieb die Tür verschlossen. Sie rief die Nachbarin und bat um die Ersatzschlüssel. Sie fanden Herrn O. tot in seinem Bett. Es schien, als sei er friedlich eingeschlafen.

Die Tochter fand später das Testament. In ihm verfügte Herr O., dass aus der Erbmasse des Hauses ein gewisser Betrag für Frau L. bestimmt sei - zur Erfüllung eines langgehegten Wunsches.

Heute kann man beobachten, wie jeden Dienstag ein schwarzer Tigra vor dem Haus von Herrn O. steht, in dem jetzt die Tochter lebt. Manchmal, wenn sie abends aus dem Büro kommt, findet sie einen Zettel auf dem Küchentisch: "Bitte Scheuermilch kaufen!"

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