„Vatermal“ von Necati Öziri: Über den Wunsch zu verzeihen
Buchpreisfinalist „Vatermal“ ist das Romandebüt des Berliner Theaterautors Necati Öziri. Es zeichnet eine Kindheit, die geprägt ist von gestohlener Zeit auf Ämtern, Wut und Armut. Ein Buch, das einem in Erinnerung bleibt
Fernab von Klischees über deutsch-türkisches Leben ist Vatermal eine Geschichte über das Aufwachsen ohne Vater in einer Einwandererfamilie im Ruhrgebiet. Das Romandebüt des Berliner Theaterautors Necati Öziri, das es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft hat, erzählt sie aus der Perspektive des 20-jährigen Arda, der mit einer lebensbedrohlichen Immunkrankheit auf der Intensivstation liegt. Er schreibt an seinen Vater in der Türkei, den er praktisch nicht kennt. „Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.“ Arda will dem Vater, der früher in der Türkei für die Revolution gekämpft hat und deswegen verfolgt wurde, von sich und seiner Familie erzäh
e erzählen, die er in prekären Verhältnissen zurückgelassen hat.Aus dem, was Arda erinnert und von seiner Mutter und Schwester am Krankenbett erzählt bekommt, formt sich in von Kapitel zu Kapitel wechselnden Zeitebenen ein Bild von drei Generationen einer Einwandererfamilie. Da sind die Erlebnisse der Großeltern, die in den 1970er Jahren nach Deutschland gehen und ihre Kinder erst drei Jahre später nachholen. Es folgt das Ankommen der Tochter in Deutschland, ihre scheiternde Ehe sowie das Aufwachsen ihrer beiden Kinder in prekären Umständen. Später springt der Text in Ardas Jugendzeit, die von Drogen, Zusammenstößen mit der Polizei und Bandenkriminalität geprägt ist, aber auch vom Zusammenhalt in seiner Vierer-Clique.Vatermal zeichnet eine Kindheit, die geprägt ist von „gestohlener Zeit“ auf den Ämtern, Ausländerfeindlichkeit in der Schule, Gewalt durch Jugendliche auf dem Schulweg, einer überforderten, alkoholkranken Mutter, einem chronisch leeren Kühlschrank. Erzählt wird von Kindern, die ihrer Mutter die Haare färben und die Freier auf dem Dachboden ignorieren; Kindern, die der Mutter morgens Kaffee und Zigaretten ans Bett stellen, damit sie pünktlich zur Arbeit kommt, und dann möglichst verschwinden, weil „niemand weiß, welche Laune der schlafende Riese haben wird, nachdem er geweckt wurde“. Die türkische Herkunft der Familie und die Abwesenheit des Vaters sind wichtige Aspekte, aber vor allem geht es um eine Kindheit in Armut und sozial desolaten Verhältnissen.Der Roman lebt von seinen eindrücklichen, lebendigen Szenen, sei es das schwere, traumatische Erdbeben in der Türkei, das die Oma und die Mutter als Kind miterleben und das Auslöser für die Emigration nach Deutschland ist, oder der regelmäßige Frauenabend, bei dem die Mütter auf dem Balkon trinken, rauchen und über ihre Männer klagen, und der „früher als sonst“ kippt. Dabei beweist Öziri ein großartiges Gespür für Details und das alltäglich Absurde und Witzige, sei es der regelmäßige Besuch beim Ausländeramt oder die wunderbare Beschreibung der Szene, als der 17-jährige Arda mit seinen Freunden auf der Parkbank am betonierten Bahnhofsvorplatz abhängt. Sie alle beobachten, wie die Schönheit Susanna auf dem Platz erscheint, die seinem Freund Danny – nein, für den Moment allen auf dem Platz – den Kopf verdreht.Vor allem beeindrucken die starken, sprachlich unaufgesetzten Dialoge, die den Theaterautor erkennen lassen. 1988 in Datteln im Ruhrgebiet als Sohn türkischer Eltern geboren, wuchs Necati Öziri mit einer alleinerziehenden Mutter auf. Heute lebt der Autor und Dramaturg in Berlin. Vatermal handelt auch von den Schwierigkeiten und dem Potenzial des Erinnerns. Mal verweist er auf die Erinnerungen, die an verlorene Dinge geknüpft sind; mal tastet sich der Erzähler mit sich überlagernden, verschiedenen Versionen langsam an die Wahrheit heran, wenn sie so schmerzhaft ist wie der Tag, an dem die betrunkene Mutter seine Schwester schlägt und damit aus dem Haus und in eine deutsche Pflegefamilie treibt.Erst an Ardas Krankenbett treffen sie sich nach vielen Jahren wieder. Das Erzählen an sich präsentiert der Roman als Strategie der Selbstbehauptung und vielleicht sogar der Kur, nachdem Ardas Körper sich gerade dann gegen sich selbst richtet, als er – der „Abi-Türke“ – sich im langersehnten Literaturstudium als Fremdkörper empfindet.Immer wieder ist Vatermal eine Suche und Auseinandersetzung mit dem abwesenden Vater, „der nicht da, aber eben doch da ist“: den Fantasien, der Wut, der Abgrenzung, der Sehnsucht, dem Schwanken der Vorstellungen, dem Wunsch zu verzeihen. Gleichzeitig beschreibt der Autor mit großem Einfühlungsvermögen das Aufwachsen als türkischer Junge in einer Welt der Mütter, die meinen, nichts anderes tun zu können, als dafür zu sorgen, „dass ihre Söhne anders werden“. Ein positives Rollenmodell für Mann- oder Vatersein als Gegengewicht zu den Freiern der Mutter, „den Bullen“, dem gewalttätigen „Onkel“ und der Jugendbandenkultur allerdings fehlt.Vatermal ist ein Text über das Weggehen und Zurückgelassenwerden, aber auch über das Ankommen, über Liebe und Freundschaft in Zeiten der Emigration – über das Gefühl, allein zu sein, und über den Willen, gerade deswegen etwas aus seinem Leben machen zu wollen. Ob die Wendungen im Leben der Schwester und die Ereignisse am Tag seines 18. Geburtstags nicht ein bisschen viel sind, sei dahingestellt – Öziris Romanfiguren bleiben jedenfalls eindrücklich in Erinnerung.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.