Vergiftete Ratschläge

A-Z Kant hat der unglücklichen Maria von Herbert zu spät seinen Rat in Liebesfragen gegeben, es endete tragisch. Ungefragter Rat stimmt uns oft säuerlich. Das Wochenlexikon
Ausgabe 51/2018
Vergiftete Ratschläge

Fotos: IStock, Getty Images

A

Austen, Jane Die britische Schriftstellerin (1775 – 1817) schrieb den ultimativen Roman zum Thema Ratschläge: Persuasion (Überredung) oder Die Liebe der Anne Elliot. Er erschien im Jahr, als sie starb. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die ihrer Liebe – einem hoffnungsvollen, aber armen Marineoffizier – eine Absage erteilt, weil eine durchaus wohlmeinende mütterliche Freundin diese Verbindung für wenig hoffnungsvoll hält (➝ Kategorischer Imperativ).

Aber – keine Bange – im Verlauf der Romanhandlung und auch im sehr hübsch inszenierten Film aus dem Jahr 2007 (mit Sally Hawkins in der Hauptrolle) werden die Karten neu gemischt, die Liebenden treffen sich wieder und es wird deutlich, wie gefährlich und töricht es ist, auf irgendwelche Ratschläge zu hören, auch wenn Menschen sie mit Wohlwollen erteilen. Außerdem haben Liebende so viel zu tun, erst mal aufeinander zu hören und – das rate ich ernsthaft – sie sollten auf ihr Herz hören. Magda Geisler

B

Berufsberatung Als Künstlerin zählt man zu den zweifelhaften Existenzen, die öfter zu tief ins Glas gucken, gerne mal ausschlafen, der Allgemeinheit auf der Tasche liegen, etwas Drolliges auf Papier kritzeln. Weil die Künstlerin trotz ihres Wohllebens mehr an der Welt leidet als andere, wegen der Sensibilität, ist sie als Taugenichts und Weichei verschrien. Zum Glück lässt die Außenwelt die Künstlerin nicht in ihrer finanziellen und moralischen Unzulänglichkeit alleine. Normalos bieten gern unaufgefordert Berufsberatung an: „Im Puppentheater suchen sie eine Social-Media-Expertin. Bewirb dich doch!“ Oder: „Bring doch ein Buch mit deinen Texten raus!“ Entschlossen (Zielstrebig) denkt die Künstlerin daran, einen litauischen Book-on-Demand-Verlag mit dieser Aufgabe zu betrauen. Aber dann guckt sie zu tief ins Glas und schreibt auf, was sie darin gesehen hat. Ruth Herzberg

K

Kategorischer Imperativ Auch die ganz großen Philosophen sehen sich hin und wieder mit der Frage konfrontiert, welche Rolle ihre Philosophie bei der Lösung praktischer Alltagsfragen spielen könne.

So kam es 1791 zu einem kurzen Briefwechsel zwischen Maria von Herbert, der Schwester eines österreichischen Industriellen und Mäzens, und Immanuel Kant. Maria hatte sich intensiv mit dem Werk des berühmten Philosophen auseinandergesetzt und beschlossen, ihr Leben nach den Grundsätzen seiner Moralphilosophie auszurichten. Kants absolutes Lügenverbot, das selbst bei Gefahr für Leib und Leben keine Ausnahme vorsah, brachte ihr allerdings alsbald die Trennung von ihrem Geliebten ein. Verzweifelt schrieb sie schließlich einen Brief, in dem sie den Philosophen um Rat fragte. Kants Antwort ließ ein halbes Jahr auf sich warten und bestand aus einer rein philosophischen Anweisung, aus der sicher auch eine gewisse Unerfahrenheit in Liebesdingen sprach. Maria von Herbert konnte ihrem Dasein in der Folge nie wieder einen Sinn verleihen (➝ Trauerarbeit) und nahm sich schließlich 1803 das Leben. Tilman Ezra Mühlenberg

L

Lean In Facebook-Managerin Sheryl Sandberg saß mal in ihrem Büro, Saugnäpfe an den Brüsten (Milchpumpe), und telefonierte. Als ihr Gegenüber nach dem Brummen fragte, schob sie es auf den Verkehr. So einfach ist das mit der Vereinbarkeit, meinte Sandberg und schrieb ein Buch darüber, der Titel:Lean In (etwa: Streng dich halt mal ein bisschen an, Berufsberatung). Das Buch wurde ein Bestseller und eine Frauenbewegung. Manager sind ja öfter der Ansicht, ihr Handeln ergebe eine ausgezeichnete Maxime für alle anderen. Frauen ohne Büro und Privatjet sehen das anders. Sogar Michelle Obama deutete neulich an, dass Lean In eventuell eine Lüge sei und „der Scheiß nicht funktioniert“. Thembi Wolf

R

Rau, Johannes Es gibt immer einen, der moralisch über einem steht. Das denken sich viele bei Gerhard Schröder. Er selbst, ausgestattet mit einem Großraumego, hält diesen Kreis sicher für überschaubar. Johannes Rau, der verstorbene Bundespräsident und frühere Landesvater NRWs (Sie erinnern sich, die einstige Herzkammer der Sozialdemokratie), ist für ihn immer dann zitierbar, wenn er sich zur SPD mal nicht äußern will: ➝ Ungefragt gegebene Ratschläge seien mehr Schlag als Rat, beruft er sich auf Raus weise Worte. Daher schweige er lieber. Er glaubt vermutlich selbst daran, dass sein Schweigen nicht besserwisserisch klingt. Jan C. Behmann

S

Schönheit Sie sollten häufiger lächeln, wirklich, dann würden Sie weniger streng aussehen! Eine schöne Figur haben Sie, alles da, wo’s hingehört, aber finden Sie WIRKLICH, dass Caprihosen das Richtige für Sie sind? Ich meine, ICH würde an Ihrer Stelle etwas Lockeres tragen, bei den Schenkeln, wir alle haben ja unsere Problemzönchen. Aber das ist nur MEINE Meinung, wenn Sie sich SO wohlfühlen …

Sind solche Ratschläge nicht wunderbar? Wenn es um Schönheit geht, besonders die weibliche, erhält man ohnehin ständig ungefragt Tipps (➝ Austen, Jane). Die sind freilich noch schlimmer als vergiftete Komplimente („Mutig, mit diesen Knien kurze Röcke zu tragen!“), denn sie geben vor, hilfreich sein zu wollen. Aber was, wenn man nicht lächeln will, was, wenn man keine stampferschenkelbedingten Komplexe hat? Und endlich: Was, wenn einem schönheitsbezogene Giftratschläge einfach am breiten Hintern vorbeigehen? Marlen Hobrack

T

Trauerarbeit Das geht vorbei. Das ist nur eine Phase.“ „Ich kenne Verlusterfahrung. Ich habe mich auch von meinem Freund getrennt. Lenk’ dich am besten ab!“ Menschen in Trauer müssen sich so einige unsinnige, ja verletzende Ratschläge anhören. Sie sollen den anderen aufmuntern, geschehen aus einer Hilflosigkeit heraus, weil – was soll man auch schon Hilfreiches sagen, wenn erst mal nichts hilft.

Es gibt Phasen in der Trauerarbeit. Aber dass diese linear ablaufen, ist das Missverständnis. Trauer ist kein Stationen-Drama, das ein heilendes Ende erreicht. Sie betrifft alle Lebensbereiche. Da wird nichts kleiner. Nur legt sich irgendwann mit der Zeit neues Leben um diesen betroffenen Kern. Die Trauer wird zu einem Teil des Lebens, der Trauernde lernt, mit ihr zu leben. Daher sollte man von Verlust Betroffenen lieber offen begegnen, sie wissen lassen, dass man ihren Schmerz wahrnimmt. Angst zu haben, sie traurig zu machen, muss man nicht. Das sind sie sowieso. Tobias Prüwer

Twain, Mark Kultur sei „das Beste, das gedacht und gesagt worden ist“, bestimmte der englische Gelehrte Matthew Arnold, der nicht nur Denker und Sager war, sondern auch selbstbewusster Belehrer. 1888 erklärte er den Amerikanern, warum diese so unzivilisiert seien. Schuld sei die „Sucht nach dem ,funny man‘, der dortzulande ein nationaler Unglücksfall ist“. Amerikas vorderster Humorist nahm’s persönlich. Ein Jahr später veröffentlichte Mark Twain seinen burlesken Roman Ein Yankee am Hofe des König Artus, in dem ein Waffenfabrikant aus Neuengland ins mythische Alt-England des 6. Jahrhunderts reist und das repressive Gottesgnadentum der Monarchie zerschlägt.

Arnolds mittelalterliche Landsleute kommen in Twains Konter nicht allzu gut weg: „Endlich begriff ich, dass diese Tiere nicht vernunftbegabt waren; … dass all ihr Geschwätz (Weisheit, gepachtet) zeigte, dass sie einen Widerspruch nicht erkannten, wenn sie ihn sahen. Da war ich beruhigt.“ Cornelius Dieckmann

U

Ungefragt Solcherart erteilte Ratschläge sind auch Schläge (Rau, Johannes), diese Weisheit kommt mir in den Sinn, wenn ich an eine Szene aus meiner Kindheit in den 1950er Jahren denke. Meine Mutter – allein mit zwei Kindern – wurde grob von Nachbarn „beraten“, die eine strengere Erziehung für dringend hielten. Eines Tages tauchte sie mit einem Züchtigungsgerät auf, das ihr die Nachbarn aufgedrängt hatten. „Siebenriemchen“ nannte man das in Sachsen. Das Bedrohungspotenzial war gering. Wir hatten keine Angst vor ihrer komischen Peitsche. Wir waren eher traurig und verwirrt, wenn sie so hilflos war. Sie fuchtelte einmal damit herum und dann verschwand das merkwürdige Teil wieder. Ich frage mich aber manchmal, warum ich mich daran so gut erinnere. Magda Geisler

V

Vorsorge Die Leute sollten zur Altersvorsorge Geld in Aktien anlegen, meinte neulich Friedrich Merz. Nicht nur das Timing kurz vor der Wahl des CDU-Chefpostens überraschte. Merz’ Rat war mehrfach vergiftet. Erstens zeigt er sich wenig sensibel: war er doch lange genau für einen Aktienfondsanbieter tätig. Auch ökonomisch macht die einseitige Ausrichtung auf Aktien wenig Sinn. Fällt allein auf sie steuerliche Förderung an, wie von Merz angeregt, blieben andere Vorsorgeoptionen ungenutzt. Noch etwas ist dem Mittelschicht-Fantasierer Merz offensichtlich unbekannt: Viele Menschen können es sich gar nicht leisten, vorgeschlagene 150 Euro pro Monat in eine private Altersvorsorge zu stecken. Tobias Prüwer

W

Weisheit, gepachtet Sie sagten: „Genießt die Zeit, die euch allein noch bleibt!“, und es wurde einem dann ganz bange zumute. Oder: „Du weißt schon, dass alkoholfreies Bier auch Alkohol enthält ...“

Sobald ein Paar erzählt, dass es Nachwuchs erwartet, kommen die gut gemeinten Ratschläge. Man hört zu, lächelt und denkt grimmig: „Wie verdammt noch mal soll meine Frau bei 30 Grad im Schatten genießen, hochschwanger zu sein?“ Was auffällt: So genervt werdende Eltern auch sind, sie greifen ja doch zu Ratgebern, recherchieren in Internetforen. Vielleicht liegt es daran, dass das Bedürfnis nach Information zwar groß ist, ein ➝ ungefragter Ratschlag sich aber auch immer ein wenig wie eine Maßregelung oder Kritik anfühlt, also nervt. Interessant wird es allerdings, wenn man sich später selbst dabei ertappt, Ratschläge zu verteilen. Jede kluge Großmutter weiß daher, dass sie ihre Tipps aus den alten Zeiten besser dosiert zum Besten gibt. Sowieso: Beherztes Mitanpacken ist meist die wahre Hilfe. Behrang Samsami

Z

Zielstrebig Panik befällt den adoleszenten Menschen, der heute Yoga macht und nächste Woche boxen geht. Der grübelt, was ist der Sinn, wozu das alles? In dieser Zeit klingt ein „zielstrebiges Leben“ (➝ Lean In) null erstrebenswert.

Nennen wir den Suchenden Artur. Hoffen wir für ihn, dass ihm niemand später lieb gemeint mitten in seine Midlifecrisis hinein diese Schwarz-Weiß-Postkarte mit dem frechen Jungen sendet, auf der steht: „Du fragst mich, was soll ich tun? Und ich sage: Lebe wild und gefährlich, Artur.“ Oft wurde lanciert, jenes Zitat stamme von Arthur Schnitzler oder von Rimbaud. Der Spruch stammt aber von Artur Dieckhoff für die Hamburger Aktion „mehr Poesie im öffentlichen Raum“ in den 1970ern. Die besagte Postkarte, entstanden in den 80er Jahren, stammt von Werner Clemens-Walter. Der freche Junge darauf ist sein Vater. Katharina Schmitz

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