Verloren im Posen

Dokumentarfilm Aufgeblähter als die Polizei je erlauben wird: „Pre-Crime“
Ausgabe 41/2017

Im Jahr 2016 verzeichnete Chicago 762 Morde. Eine Zahl, die die US-Stadt zum Inkubator für neue Sicherheitskonzepte qualifiziert. So beginnt die Zukunft der Kriminalitätsprävention, von der Pre-Crime erzählt (der Titel bezieht sich auf einen Begriff aus Philip K. Dicks Kurzgeschichte Minority Report, die 2002 verfilmt wurde). In Chicago werden präventive Ermittlungsmethoden, die anderswo noch heftig umstritten sind, bereits umgesetzt.

Die „Heat List“ ist eine dieser Methoden. Ein Algorithmus, der potenzielle Straftäter erfasst, bevor die ein Verbrechen gegangen haben. Robert McDaniel steht auf dieser Liste. Für Menschen wie ihn berechnet der Algorithmus eine Zahl, die ihre Gefährdungsstufe definiert. McDaniel ist eine „215“, die Wahrscheinlichkeit, dass er ein Gewaltdelikt begeht, ist 215 Mal höher als bei einem Chicagoer Durchschnittsbürger. Es bedarf keiner tiefergehenden Analyse, um festzustellen, dass die Unschuldsvermutung im „Predictive Policing“ genannten Verfahren ausgedient hat.

Das setzt auch der Film voraus, er lässt die Details entsprechend ungeklärt und hastet den unterschiedlichen Policing-Systemen weltweit hinterher: „Heat List“ in Chicago, „Precobs“ in München, „Matrix“ in London. Schnell verliert sich Pre-Crime in Erklärungen zu einzelnen Systemen, deren Kompetenzen von Patrouillenrouten-Optimierung bis zur Erkennung potenzieller Mörder reicht. Gesprächspartner aus verschiedenen Berufsfeldern geben Beurteilungen zu den Möglichkeiten des Missbrauchs ab, die zu Exkursen über Big Data, Privatsphäre und Videospiele ausufern.

Die Leerstellen zwischen diesen Themensprüngen werden mit einer schematisch aufgezogenen Abfolge von Bildern gestopft: Kameras schweben über der Skyline, schwenken Personengruppen ab und zoomen an Individuen heran. Wahlweise wird das Überwachungskamera-Bild dann mit Schwarz-Weiß-Optik und digitalen Einblendungen aufpoliert, bis der nächste Auskunftgeber zu Wort kommt.

Die Folgeszenarien der präventiven Polizeiarbeit bildet der Film mit nichtssagenden Reenactments nach: Eine vermeintliche Münchner Polizeistreife wird bei einer Personenfeststellung beobachtet und eine Gruppe von Schauspielern besucht in der Rolle von Polizisten und Sozialarbeitern Robert McDaniel, um ihn über seine Kategorisierung als potenzieller Straftäter zu informieren. Mit verwirrenden Inszenierungen und visueller Monotonie degradieren Monika Hielscher und Matthias Heeder ihren Dokumentarfilm zum Illustrationsmittel. Während die Aufnahmen urbaner Zentren die Zuschauerin einlullen, bombardieren sie Dutzende talking heads mit der digitalen Zukunft, die vom Konzept der Verbrechensbekämpfung wegführt. Juristische Aspekte, dystopische Videospiele, Pläne der chinesischen Regierung zur Bürgerevaluierung: Alles bläht Pre-Crime derart auf, dass sein Sujet verschwindet.

Sein Potenzial deutet der Film interessanterweise nur dort an, wo er das Heft aus der Hand gibt. Etwa wenn der CEO eines Sicherheitsunternehmens den Tathergang eines Mordes mit Hilfe einer Flugzeugkamera rekonstruiert. Hier konkurriert das Ausmaß omnipräsenter Überwachung in seiner Wirkung direkt mit den Gräueln der Tat, die der stolze Firmenchef vor der Kamera Bild für Bild rekonstruiert.

Statt die Methoden des privatfinanzierten „Predictive Policing“ zu ergründen, tritt Regisseur Matthias Heeder persönlich auf: als Mann am Meer, der nach jedem Kapitel bedeutungsschwanger Trendbegriffe im Skizzenbuch unterstreicht oder sie im Voice-over aufzählt; derweil brechen sich die Wellen an den Klippen unter ihm. Eine der ärgerlichen Posen des Films, die ein Mindestmaß filmischer Ambition präventiv verhindert hätte.

Info

Pre-Crime Matthias Heeder, Monika Hielscher Deutschland 2017, 88 Minuten

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Geschrieben von

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