A
Adorno Hartnäckig hält sich das Vorurteil, Adorno habe sich lediglich in der Eiswüste der Abstraktion herumgetrieben, mit Praxis jedoch nichts am Hut gehabt. Weit gefehlt: Nach seiner Rückkehr aus dem Exil war Adorno schon aus Eigeninteresse daran gelegen, sich am Aufbau eines demokratischen Deutschlands zu beteiligen. Ein besonderes Anliegen war ihm dabei die „Erziehung zur Mündigkeit“, über die er sich in den 1960ern im Hessischen Rundfunk in Gesprächen mit Hellmut Becker austauschte, dem damaligen Präsidenten des Deutschen Volkshochschul-Verbandes (➝ Kampagne). Praktischer geht es kaum, etwa wenn Adorno laut darüber nachdachte, in den Dörfern so etwas wie betreutes Fernsehen einzurichten, um zur „Entbarbarisierung“ des Landes beizutragen. Man kann darüber schmunzeln, jedoch war das Land, in das Adorno zurückgekehrt war, noch so voller Nazis, dass er im Fernsehgespräch sogar einem gegenübersaß, was der verschwieg. Leander F. Badura
B
Boden Meinen besten Freund habe ich in der Volkshochschule kennen gelernt, beim Achtsamkeitstraining. Den Kurs gibt es längst nicht mehr, den Freund mit seinen Knieschmerzen schon. Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn machen würde! So geht es mir auch mit der Volksbildung. Seit Jahren gehe ich zum Pilates (➝ Yoga) in der Aula „meiner“ alten, roten Backstein-Volkshochschule. Unten Linoleumboden, an der Decke Sterne, die Wände garniert mit altertümlichen, überhaupt nicht gegenderten pädagogischen Bildchen und Goethe-Versen – „Auf des Glückes großer Waage/Steht die Zunge selten ein ...“ – und eine Kursleiterin, deren warme Stimme mich zuverlässig runterbringt, auf die Matte, auf den Boden der Tatsachen: in den Körper. Russisch lerne ich online – es gibt auch eine Cloud! Und die Kosten sind unschlagbar. Katharina Körting
K
Kampagne Volkshochschulkurse sind gegenüber anderen Bildungsangeboten unschlagbar günstig. Und das ist politisch gewollt. Sie sollen schließlich allen Menschen offen stehen und barrierefreies Weiterbilden ermöglichen. Diesen öffentlichen Auftrag werden die Volkshochschulen bald nicht mehr ganz so günstig erfüllen können, fürchtet der Bundesverband. Denn die ab 2025 anstehende kommunale Umsatzsteuerpflicht sowie europarechtliche Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie bedrohen aus Sicht des Deutschen Volkshochschul-Verbands DVV (➝ Adorno) die Arbeit. Eine Umsatzsteuerbefreiung sei auch europarechtlich möglich, hieß es im Zuge einer Kampagne Anfang des Jahres in Berlin. Man müsse nur den politischen Willen dazu haben. Etwas lernte die Öffentlichkeit bei der Aktion gleich mit – und das völlig kostenlos: Wo Annegret Kramp-Karrenbauer eigentlich gelandet ist. Sie steht dem DVV als Präsidentin vor. Viele Kommunalpolitiker unterstützen die Verbandsforderung, der Landtag von NRW hat sich ebenfalls in einer Abstimmung hinter die Beibehaltung der günstigen Weiterbildung gestellt. Tobias Prüwer
L
Lenin „Lernen, lernen und nochmals lernen!“ Zu DDR-Zeiten „zierte“ die Losung Klassenzimmer und Volkshochschulen, geadelt sozusagen durch Lenins Namen. Dabei war der Satz aus dem Zusammenhang gerissen. Er entstammt dem Artikel Die Rückwärtsgewandtheit der russischen Sozialdemokratie von 1899 und betraf die Bildungsarbeit in den Fabriken. Wie russische Quellen belegen, gibt es das Zitat wortwörtlich bei Belinski (1811 – 1848), der eine zentrale Figur im Kampf gegen die zaristische Herrschaft war. Hat der 29-jährige Lenin es „geklaut“? In der DDR kursierte sogar ein Witz, wann Lenin über das Lernen gesprochen habe: „Na, als er das Zeugnis von Ulbricht gesehen hat.“ Irmtraud Gutschke
Liquid VHS Eine neue Volkshochschule braucht das Land! Denn in einer Welt, in der sich alles täglich ändert und ChatGPT schon eine Sekunde nach der Frage auf deren Wiederholung anders antwortet, müssen die Themen der VHS-Kurse bis zu eineinhalb Jahre im Voraus angemeldet werden. Interessierte müssen sich Monate im Voraus auf genaue Tage festlegen, wonach sich der Handwerker bestimmt nicht richtet, die Viren schon gar nicht. Was spricht dagegen, dass rabattierte Kontingente von Unterrichtseinheiten gebucht werden können, um sie gemäß eigener Zeit- und Interessenfenster auf viele Kurse zu verteilen? Und wessen Babysitter:in nicht kommt, bekommt Geld zurück oder bucht um. Und dass die Interessierten ihre Wünsche mit einem KI-Chatbot besprechen können, der Wunschthemenprofile für die Programmplanung erstellt?Wolfgang Ratzel
M
Marl Als das Bergwerk Auguste Victoria im Dezember 2015 stillgelegt wurde, gingen in Marl 116 Jahre Steinkohleförderung zu Ende. 3.800 Arbeitsplätze verschwanden. Reich war die Stadt im Ruhrgebiet schon damals nicht mehr. Vergangen die Zeiten, als man die in Nachkriegstrümmern gegründete erste Volkshochschule des Westens in einer kühnen Stahl-Glas-Konstruktion unterbrachte. Was man euphemistisch „Strukturwandel“ nennt, hat Spuren hinterlassen. Imposante Bauwerke, in den Wirtschaftswunderjahren von Stararchitekten ersonnen, gelten als teure Sanierungsfälle. 2005 wurde der Volkshochschulbau, heute Heimat des Grimme-Medieninstituts, renoviert. Weitere Baudenkmäler der Moderne sollen bis 2024 folgen. Nun wird das Geld knapp. Also beschloss der Stadtrat, die Mehrkosten für den Umbau eines denkmalgeschützten Schulgebäudes zum Kulturzentrum nicht zu tragen. Und das Projekt steht vor dem Aus. Joachim Feldmann
P
Proletarier-Abitur So nannten wir das spöttisch. Weil ich nicht zur Jugendweihe gegangen bin, durfte ich – 1960 – nicht zur Erweiterten Oberschule. So nutzte ich nach der 10. Klasse die auch in der DDR gepflegte Tradition der Arbeiterbildung (➝ Lenin) und pilgerte – neben meiner Lehrausbildung – zwei Jahre lang zweimal in der Woche abends und am Samstagvormittag in die Leipziger Löhrstraße zur Volkshochschule. Eine harte Zeit, aber ich habe sie als ausgesprochen lebensfroh in Erinnerung. Manchmal stand es auch bei mir auf der Kippe. Die Naturwissenschaften waren eine Hürde. Ich hatte Glück. Eine Prüfungsfrage in Physik handelte von der Germaniumdiode und ihrer Funktion und genau das hatte ich zufällig gepaukt. Unvergesslich. „Sie haben romantische Vorstellungen von der Mathematik“, seufzte mal ein Lehrer. Aber in Russisch war ich gut. Nach dem Unterricht ging es meist in eine Kneipe. Ach, die schöne Jugendzeit: Verbracht bei Bildung und Bier. Magda Geisler
Q
Quartärer Sektor Genau genommen ist der Name Volkshochschule irreführend. Denn „Hochschule“ bezeichnet den tertiären Sektor des Bildungssystems. Der quartäre Sektor hingegen, zu dem die VHS zählen, ist jener der Weiterbildung. Diesen definiert der deutsche Bildungsrat als „Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase“. Also auch alles informelle Lernen und jeder Bibliotheksbesuch fallen hierunter. Diese Art der Bildung folgt keinem äußeren Zweck, sondern entspringt allein individueller Neigung (➝ Versprechen). Das steht im Gegensatz zum lebenslangen Lernen, das die anhaltende Befähigung zur Berufstätigkeit beinhaltet. TP
S
Sex Ohne Sex and the City hätte ich keine Doktorarbeit schreiben können. Denn fürs Studium war Englisch Niveau B2 Voraussetzung. Wer das Fach bis zur 12. Klasse belegt, hat das automatisch. Naiv wählte ich Englisch nach der 11. Klasse ab. Französisch passte besser in meinen Stundenplan. Die Freude über die Freistunden war nach dem Abitur passé: Während des Freiwilligen Sozialen Jahres radelte ich donnerstagabends in ein kaltes Bürogebäude und belegte bei einem nerdigen Muttersprachler einen Volkshochschulkurs fürs Cambridge First Certificate. Nach der mündlichen Prüfung fragte er interessiert, worauf mein Leistungssprung zurückzuführen sei. Ich hatte die Serie über das Leben von Carrie und Co. in Dauerschleife geschaut – im Original mit Untertiteln! Sarah Alberti
V
Versprechen Es ist im Spätkapitalismus das Versprechen der Nichtanwendbarkeit, die die Dinge wieder interessant macht. Denn in der derzeitigen Moderne unterliegt alles einem vollumfänglichen Nutzen. Was nicht unmittelbar mehr Profit erbringt, gilt als Schande. Da ist die VHS ein Kleinod der Zuwendung hin zu Dingen, die aus sich heraus spannend sind, nicht primär dem Zweck des Weiterkommens dienen (➝ Quartärer Sektor). Und so lernen Menschen dort viel mehr und viel schneller, weil ihnen nicht ständig das Gespenst des Scheiternkönnens im Genick sitzt. Und ohne Angst vor der Schmach des latenten Scheiterns werden Menschen in ungeahnte Höhen von Wissen katapultiert. Jan C. Behmann
Y
Yoga Der erste Volkshochschulkurs, den ich mit 15 besuchte, fand im benachbarten Kleinstädtchen statt. Ich radelte jeden Dienstag abends drei Kilometer zum dortigen Seniorenheim. Das war der Veranstaltungsort, der Kurs ein Yogakurs, was damals noch nichts mit Lifestyle zu tun hatte, sondern etwas Exotisches hatte. Fitness- und Ästhetikschwelle lagen bei Null. Die Frauen um mich herum waren mindestens doppelt, vielleicht auch drei- oder viermal so alt wie ich, trugen glitzernde Gymnastikhosen und Schlabbershirts. Es wurde viel geatmet und gelegentlich auch friedlich geschlafen, nur wenige kamen mit den Händen an ihre Zehenspitzen dran. Der Kurs war sowas wie eine meditative Turnstunde, alle waren total nett zueinander und die Lehrerin hörte tatsächlich auf den Namen Genoveva. Seither bin ich überzeugte Anhängerin entspannungsfördernder Volkshochschulkurse (➝ Boden) und habe dank dieses prägenden Erlebnisses so lange Yoga praktiziert, bis ich zum Schwimmen umgeschwenkt bin. Beate Tröger
Z
Zehn-Finger-System Dieser Text ist einfach gehalten, ich muss mich beim Schreiben auf das Zehn-Finger-System konzentrieren. Das habe ich gerade in fünf dreistündigen Einheiten an der VHS zu lernen versucht – ein Weihnachtsgeschenk, damit zu Hause mein Hämmern nicht mehr schon im Treppenhaus zu hören ist. Aber der beste VHS-Kurs hilft nix ohne Üben zuhause, da gibt’s Nachholbedarf. Dennoch hat sich der Kurs gelohnt: Eine Optometristin war meine Banknachbarin, an ihrer Hochschule habe ich bald eine Gratis-Augenuntersuchung und bekomme womöglich eine Gratis-Brille. Ich konnte das Abzutippende vorne auf der Leinwand so schlecht lesen! Ich traf zudem den Freund eines Freundes im Kurs wieder und leite hiermit eine Stellenanzeige der Kursleiterin weiter: Ihr Chor sucht jemanden für die Pressearbeit! Sebastian Puschner
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