Von Archiv bis Zoom: Alles über Google Street View
A-Z 2008 schickte Google erstmals Kameraautos durch deutsche Städte, jetzt werden neue Bilder von den Straßen und Häusern gemacht. Das empört manche, andere werden nostalgisch – und wer ist Google Mops? Unser Lexikon der Woche
In einer Großstadt können 15 Jahre eine lange Zeit sein – vor allem in Berlin. In 15 Jahren sind ganze Stadtteile umgekrempelt worden. Die einen nennen es Aufwertung, die anderen Gentrifizierung. Doch dank Google Street View kann man noch durch das alte Berlin streifen. Zum Beispiel durch Friedrichshain im EM-Jahr 2008 (davon zeugen Aufschriften an Bars und so weiter). Man sieht: die abgerissene Nordkurve der S-Bahn am Ostkreuz und den alten Bahnhof Warschauer Straße (nur ein paar Hütten) – ohne East Side Mall, ohne Amazon Tower, dafür kurz vor Sonnenuntergang; die Industriebrache in der Rigaer Straße, die ein Investor durch teure Wohnungen ersetzt hat; Kieztrödel statt Coworking-Space, Dönerladen statt noblem Frühstü
lem Frühstückscafé. Und wie bitte, in der Boxhagener Straße gab es mal ein Skigeschäft? Freudig entdeckt man auch Orte, die es immer noch gibt: den Feuermelder am Boxi, Pizza XXL am U-Bahnhof Samariterstraße. Man kann nur hoffen, dass Google diesen ethnografischen Schatz auch in Zukunft zugänglich machen wird. Leander F. Badura Fwie FahrradAls die fotografierenden Google-Autos seinerzeit die Runde machten, war das Phänomen des „Street View Photobombing“ gleich schon mitgeboren. Menschen, denen es gelungen war, sich als Waldo zu verkleiden und so in die Aufnahme zu kommen. Andere stellten ihren süßen Hund auf den Waldweg. Und wieder andere wurden scheinbar zufällig beim Pinkeln erwischt (→ Stinkefinger). In eine berühmte Aufnahme aus Großbritannien hatte sich eine freche Schwalbe fliegend vor die Kamera gedrängt. Dem Photobombing versucht Google sofort Einhalt zu gebieten; Gesichter, Autokennzeichen und Ähnliches werden seither grundsätzlich verpixelt. Ich war richtig enttäuscht, dass mein Haus, vor dem ich seit Jahr und Tag dasselbe Fahrrad anschließe, im Juli 2008 ausgerechnet zu einer Stunde fotografiert wurde, in der ich mit selbigem gerade woanders unterwegs war. Barbara SchweizerhofGwie GeoguessRWo mag diese Felsspitze hinter Fachwerkfassaden aufscheinen? Worauf deutet dieses Straßenschild hin? Was liegt da auf dem Teller? Mit einem einfachen Prinzip hat GeoguessR das Geografie-Erraten zum Erfolgsspiel gemacht. Den Spielenden wird ein Foto aus Streetview – oder ein anderes 360-Grad-Foto – präsentiert, und diese müssen erkennen, wo es aufgenommen wurde. Gleich nach Veröffentlichung 2013 wurde es zum Erfolg und ist auch als App zu haben. Der User kann sich im Panoramabild umschauen und anhand landestypischer Merkmale wie Firmenlogos, Verkehrsschildern, Straßenmarkierungen versuchen, den Ort zu bestimmen (→ Weißer Fleck). Man kann es allein spielen oder mit Freunden zocken. Es gibt ganze Wettbewerbe im Topografie-Raten. Einst kostenlos ist es seit einigen Jahren nur im Abo zu haben. Via Crowdfunding wurde mit Geotastic ein kostenloser App-Klon finanziert, mit dem sich jeder auf Spurensuche begeben kann. Und man kann die Community-Mitglieder mit eigenen Rätselbildern fordern. Tobias PrüwerMwie MopsVielleicht hatte er viel mehr verstanden, als ihm in dem Moment zugetraut wurde. Er, der alte Architekt, dem eine Agentur beim Relaunch der in die Jahre gekommenen Webseite klarmachen wollte, wie zwingend es sei, sämtliche seiner realisierten Bauten mit den Geokoordinaten zu verlinken. Bei Worten wie „verlinken“, „Street View“, „Geokoordinaten“ oder → Zoom-Level, da guckte er, der sein Leben lang ausschließlich mit Füllfederhalter geschrieben hatte und sämtliche digitalen Geschäfte seinem Sekretariat und seiner Frau überlassen hatte, immer nur kariert. „Die Leute sollen hinfahren und sich die Gebäude gefälligst anschauen“, sagte er und verließ dann das Verkaufsgespräch, nicht ohne noch zu bemerken: „Der ist doch komplett abgerichtet, dieser Google Mops, der schickt die Leute noch zu Gebäuden, wenn sie längst wieder in sich zusammengestürzt sind.“Beate TrögerNwie NachmacherEs gibt Pantoletten von Esmara, eine Lidl-Marke (designed von Heidi Klum). Die sollen wie Birkenstocks anmuten, sind aber nicht so ergonomisch am Fuß. Aber jeder kann sie kaufen, sehr günstig. Es existieren auch Rossmann-Modelle, eigentlich in allen Preisklassen.Auch Google Street View hat Nachahmer. Im April 2022 startete Apple Karten die Funktion Look Around (seit Juli 2022 in Deutschland verfügbar), Nutzer schwärmen von realistischeren 3-D-Fotos und flüssigeren Animationen als bei Street View. Besonders auf dem Smartphone sollen die Bilder frischer wirken. Zudem hebt Apple den Datenschutz hervor, es ist keine Anmeldung erforderlich und auch die Apple-ID bleibt außen vor (→ Privat). Street Views neuester Coup ist auch eine Reaktion auf die Konkurrenz: Kameraautos nehmen jetzt aktuelle, hochauflösende 3-D-Panoramabilder von Gebäuden in den Städten auf. Es sind auch Beschäftigte zu Fuß unterwegs, um sie zu erfassen. Wer nicht will, dass sein Haus gezeigt wird, kann Widerspruch einlegen, auch per Post. Maxi LeinkaufPwie PrivatGebe ich bei Google meine Adresse ein, sehe ich unser Haus. Eigentlich kann es jede, jeder sehen: Die Beschaffenheit des Zauns, das Auto in der Toreinfahrt … Wenigstens ist die Nummer nicht erkennbar. Die Jalousien sind heruntergelassen. Dabei sind wir nicht so oft unterwegs. Da haben die Google Street Viewer wohl den passenden Zeitpunkt abgepasst, um selber nicht beobachtet zu werden (→ Zoom).Dass der Onlinedienst eines US-amerikanischen Unternehmens in Deutschland Privatgrundstücke filmen durfte, ohne eine Erlaubnis der Besitzer einzuholen, ist ein Skandal. Und dass die Bilder jetzt aktualisiert werden sollen, danach hat mich auch niemand gefragt. Vielleicht werde ich ein Street-View-Auto nicht mal zu Gesicht bekommen. Jetzt schon könnte man die Aufnahmen aus dem Weltraum machen. Umgekehrt geschieht es ja längst. Irmtraud GutschkeSwie StinkefingerGoogle Street View ist ein radikales Kunstprojekt. Es zeigt die Welt en gros und en détail. Straßen in aller Welt und die Menschen, die sie bevölkern: die Abbildung der Welt, Pixel um Pixel. Ein Jahr nachdem das erste Street-View-Auto in die Welt aufgebrochen war, startete Jon Rafman sein eigenes Projekt. 9 Eyes erkennt die Größe dieser Bildersammlung und auch, dass viel Emotionales in den Bildern steckt, die von den Autos mit ihren neun Kameras gemacht werden. Seit 2008 sammelt der kanadische Künstler Screenshots der Bilder in einem Blog: Da ist der Mann, der dem Google-Mobil den Stinkefinger zeigt. Da liegen Menschen auf der Straße, Männer werden von der Polizei gefilzt, eine nackte Frau am Meer, ein Clown schläft auf einer Parkbank. „Die von Google aufgenommene Welt erscheint wahrer …“, sagt Rafman. Aber sie ist vergänglich: Viele der frühen Street-View-Bilder zeigen Gebäude, die nicht mehr stehen (→ Archiv). Rafman selbst hat einen Essay über sein Projekt geschrieben, in dem er seine Vorbilder benennt: Jeff Wall, Walker Evans und Frühwerke der Street-Fotografie. Marc Peschke Uwie UnromantischGoogle Street View ist als digitales Tool fraglos praktisch, aber so romantisch wie die Onlinereiseagentur booking.com oder sogenannte Statusbilder auf WhatsApp – nämlich gar nicht. Will man wo hinfahren, kann man mit Street View vor Ort sein, bevor man da gewesen ist, und vielleicht fährt man jetzt auch nicht hin, weil die Straße finster aussieht. Will man in ein romantisches Hotel, erfährt man auf booking.com, wie abgenutzt der Teppich im Zimmer war, und bucht lieber nicht. Ist man dann woanders hingefahren, in ein top bewertetes hygienisches Hotel, werden noch während des Aufenthalts die Statusbilder auf WhatsApp gestellt für die, die wegen Street View woanders hingefahren sind, wie deren Status mitteilt. Wie unromantisch! Und vergeblich verscheuchen wir damit unseren Horror Vacui, den Schrecken vor der Leere. Katharina SchmitzWwie Weißer FleckVon Inseln wie den Färöern abgesehen, besitzt das bewohnte Europa auf Street View nur einen flächendeckenden weißen Fleck. Deutschland ist bis auf ein paar Metropolen bisher bilderlos. Und selbst in den Großstädten sind immer mal wieder Fassaden unkenntlich gemacht – und aktualisiert, wie in anderen Ländern, wird auch nicht. Nachdem Google seinen Dienst 2008 in Deutschland zunächst mit dem Veröffentlichen von ausgesuchten Stadtansichten (→ Fahrrad) gestartet hatte, wurden mehrere Datenschutzeinwände laut. Zwei Jahre später gab Google bekannt, hier Street View nicht auszuweiten und Daten nur zur Verbesserung des Kartenangebots zu sammeln. Gründe für die Einstellung nannte der Konzern nicht, er hatte wohl keinen Bock auf weiteren rechtlichen Ärger. Vielleicht hatte man auch Panik, dass handgreifliche Wutbürger die Kameraautos stürmen. Die Färöer sind übrigens kein weißer Fleck mehr. Weil die Autos dort nicht fahren konnten, ergriff man Eigeninitiative. Mit Kameras ausgestattete Schafe liefen die Landschaft ab, hübscher Name: Sheep View. TP Zwie Zoom!Ihr glaubt, Street View überwacht euch? (→ Privat). Im Internet schwirrt das Video einer Online-Vorlesung der Technischen Hochschule Mittelhessen. Der Dozent stellt sich vor: „Wer bin ich privat?“, steht auf der Power-Point-Folie. Seine Hobbys seien Familie, Joggen und Urlaub. „Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich schon aufs nächste Jahr, wieder an der Nordsee zu sein.“ Ein Student quittiert diese ausführliche Selbstdarstellung mit den Worten: „Junge, das juckt kein Schwanz!“ Er hatte vergessen, das Mikro auszustellen. Im Vorlesungssaal wäre ihm das nicht passiert. Mittlerweile arbeitet ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland im Homeoffice (Dezember 2022). Wir müssen dauernd auf der Hut sein: Bin ich stumm? Ist die Kamera aus? Wäscheständer im Bild? Da ist mir das Google-Auto vor der Tür vollkommen egal. Dorian Baganz