Von Immanuel Kant zu „Everything Everywhere All at Once“
Sachlich richtig Prof. Dr. Erhard Schütz liest Bücher zu Immanuel Kants 300. Geburtstag und lässt sich von zwei erfolgreichen Mediengeschäftsfrauen und Autorinnen den Film „Everything Everywhere All at Once“ nahebringen
In „Der bestirnte Himmel“ sprechen Omri Boehm und Daniel Kehlmann über Kant
Foto: Imago/Cover Images
Daniel Kehlmann, der seine Dissertation zu Kant zugunsten der Literatur aufgab, und Philosophieprofessor Omri Boehm, Vertreter eines radikalen Universalismus, haben in Der bestirnte Himmel über mir lange Gespräche über Kant geführt. Im Dialog, nicht konträr, sondern eher mäeutisch die Gedanken des Gegenübers hervorrufend und bestärkend. Wiewohl viele Aspekte aufgreifend, dreht sich das Ganze letztlich immer wieder um den kategorischen Imperativ und sein Verhältnis zu den Lebenswirklichkeiten. Omri Boehm hält strikt an ihm fest, selbst wenn es in einem Gedankenspiel darum geht, dass jemand einen Verfolgten vor den Nazis versteckt und die belügt. Das größte Bedauern ist ihm, dass Kant – in Abgrenzung zu den „niedere
renzung zu den „niederen Geistesklassen“, so Boehm – seine Kritik der reinen Vernunft in einen „schwerfälligen, steifleinenen Stil“ gepackt habe, wo sie doch als Hauptbuch seine übrigen Schriften „einigermaßen entbehrlich“ mache.Der reine Geist darin konfligiert allerdings erheblich mit der materiellen Welt. So sind wir doch unüberwindbar mehr als nur zur reinen Geistigkeit fähig. Wie hält man’s da mit Kants Anthropologie, deren systemische Hierarchisierungen heute manche dazu bringen, mit ihrem inhärenten Rassismus gleich den ganzen Kant zu verwerfen? In dem Zusammenhang Boehm: „Selbst um zu verstehen, dass unser Denken von kolonialistischen Annahmen entkolonialisiert werden muss, muss man nicht unbedingt postkoloniale Ideen vertreten.“ Denke man, dass die Vernunft sich selbst entkolonialisieren könne, oder denke man, wir müssten uns von der Vernunft befreien, um uns zu entkolonialisieren? „Wenn man Ersteres vertritt, ist man eine kantianische Universalistin. Im zweiten Falle eine Vertreterin des Postkolonialismus.“Das anmaßende Im-Namen-von-Sprechen der Intellektuellen, das in den Ego-Predigten der Influencer seine Fratze findet, ist nicht zu Unrecht intellektuell verpönt. Doch wie steht es um die, die noch nicht, und die, die zwar sprechen können, denen man aber das Wort abschneidet oder keins abnimmt? Oder noch sprechen, aber es nicht mehr sinnvoll tun können, wie der greise Kant, der die von Friedrich Theodor Rink in Auftrag gegebene Schrift Immanuel Kant über Pädagogik vor ihrem Erscheinen 1803 nicht mehr hat verständig kontrollieren können. Wie steht es um die Unmündigkeit, deren Selbstverschuldung und den Ausgang aus beidem? Erziehung – für Kant als Problem „das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden“, hat ihn zeitlebens beschäftigt.Seine eigene Expertise: Kind, Jugendlicher, Hauslehrer, Professor. Viermal hat er zur Pädagogik gelesen. Auch sonst hat er sich regelmäßig zur Erziehung geäußert. Oft im Beiher zu Moralphilosophie, Anthropologie, Ästhetik oder in Briefen. Die Lektüre Rousseaus als Offenbarung: Nicht mehr die „Ehrsucht“ des Gelehrten, der sich dem unwissenden „Pöbel“ überlegen dünke, solle ihn leiten, sondern „die Rechte der Menschheit herzustellen“. Studierenden empfahl er den Dreischritt: aufmerksame Sinneswahrnehmung, reflektierende Begriffsbildung und Ordnung zu einem Gedankenganzen. Er selbst dachte sich immer tiefer in die Frage hinein, wie vom Menschen gelernt werden könne, was ihn als Menschen auszeichnet – und wie wiederum ihm das beigebracht werden könne. Seine versammelten – im ausführlichen Vorwort in biografischen wie systematischen Zusammenhang gebrachten – Überlegungen zur Pädagogik en détail und en gros sind eine gute Übung im Wagnis, sich – angeleitet – des eigenen Verstandes zu bedienen.Beim Buch Alles überall auf einmal habe ich mir verkniffen, KI um eine Bewertung zu fragen und stattdessen versucht, mich meines eigenen Verstandes zu bedienen. Und der sagt: Dazu, gar dagegen, ist wenig zu sagen. Man muss es mögen, wie zwei taffe Mediengeschäftsfrauen, die erfolgreich auch Buchverkauf betreiben, hier in einer Mixtur aus Anekdoten, die eher das reale Leben schrieb denn ChatGPT, wiewohl das eine große Rolle darin spielt, flotte Analogieketten – „KI-Systeme werden zu Dampfmaschinen des Geistes, unseren kognitiven GPS-Systemen oder einfach zu Klettergerüsten fürs Denken“ – mit solchen Thesen verbinden: „Es muss immer darum gehen, den Menschen durch künstliche Intelligenz zu unterstützen, zu bestärken und besser zu machen.“ Mit derlei Zwischenergebnissen: „Wenn menschliche und künstliche Intelligenz zukünftig optimal zusammenwirken sollen, werden sich die Kompetenzprofile aufseiten des Menschen verschieben.“Sie haben frohe Botschaften bereit, wie die, dass Hacken einfach geworden ist. Machen uns aber auch klar, dass der Einsatz von KI wertvolle Ressourcen verbraucht und yetihaft große CO₂-Fußabdrücke hinterlässt. Wer nur in der Lage ist, anhand von reichlichen Anekdoten, schiefen Metaphern und Allerweltsweistümern, sich den Weg zur KI und dessen mögliche zukünftige Verzweigungen vor Augen zu stellen, dem ist das Buch ein Nutzen. Ansonsten gilt die zweifellos unbezweifelbare Einsicht: „Was passiert, wenn man schreibt oder spricht, ohne zu denken? Man entwickelt dann in der Regel keine interessanten Ideen oder übermittelt Informationen, sondern produziert Content.“ Persönlich hat mir das Buch noch den Film Everything Everywhere All at Once nähergebracht.Und nun in die altvordere Provinz. Deutschland-Bilder – ob Geografie oder Historie, ob Ausrottung oder Zustrom von Menschen –, man kommt dem nie unmittelbar nahe, sondern stets vermittelt durch Erläuterungen und Erzählungen, Bilder oder Texte, unlösbar verbunden mit Stereotypen. Rudolf Stöber will deren Schwarz-Weiß in Grautöne auflösen, in Langzeitlinien und Kurzzeitpunkte, in Übergänge und Verwandlungen. Die weit ausholenden 900 Seiten wären ohne Medienfonds, ohne den Zettelkasten von Wikipedia und all den Ressourcen des Internets undenkbar. Als Kommunikationswissenschaftler reflektiert Stöber das mit. So ist sein Deutschland-Puzzle aus Realien, Bildern und Zuschreibungen auch ein Lehrbuch zur historisch-politischen Kommunikation.Vom Raum, von der symbolischen Aufladung der Landschaftselemente – ob „deutscher“ Rhein oder „deutscher“ Wald, Verhältnis von Stadt und Land, Alltagsarchitektur und Baudenkmalen – bis zur Zeitdimension reicht das – zu Generationen, Ritualen, Festen und Feiern. Zur Sprache – Witze, Gerüchte, Propaganda. Spiegelungen in den Nachbarn – vom französischen „Erbfeind“ zur „polnischen Wirtschaft“. Kriege und Sport, Kaiser und Kanzler(in). Religion und die Frage Holocaust oder Shoah. Unweigerlich zieht das in einen Mahlstrom, in dem alles zu einem Kaleidoskop verwirbelt. Dessen Zutaten archiviert ein immenses Personen- und Sachregister, von dem aus man an jeder beliebigen Stelle in den Wirbel dieses Handbuchs eintauchen kann.
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