Wim Wenders porträtiert Anselm Kiefer: Der Künstler und sein Geisterreich
Kino Filmemacher Wim Wenders huldigt dem Lebenswerk von Anselm Kiefer in einem wirkmächtigen und verschachtelten Essayfilm – „Anselm. Das Rauschen der Zeit“ ist das Porträt eines Rastlosen
Nicht im Bild: das Fahrrad, mit dem Anselm Kiefer (li.) in Wim Wenders' (re.) Film durch sein entgrenztes Atelier bei Paris fährt
Foto: Ruben Wallach
Aus der Geschichte wispert es unheilvoll. Gespenstische Entitäten ohne Kopf und Gliedmaßen bevölkern diesen Film. Frauen der Antike hat Anselm Kiefer seine Werkserie genannt: weiße, wallende Kleider ohne erkennbare Menschengestalt. Hüllen, in denen sich das Gedächtnis der Welt zu verbergen scheint. Mal stehen sie in Hallen, mal unter freiem Himmel. Aus ihren unsichtbaren Körpern wuchern beispielsweise Bücher, Drähte, Pflanzen. Wim Wenders, einer der berühmtesten Vertreter des Neuen Deutschen Films, bringt diese Kleider nun mit flüsternden Klängen zum Sprechen. In Anselm. Das Rauschen der Zeit dienen sie als wiederkehrendes Motiv. Bewegtbild und bildende Kunst finden zueinander, beleben das Unbelebte, überwinden Zeit und Raum.
winden Zeit und Raum.Aber was wissen jene drapierten Skulpturen überhaupt zu erzählen? Wenders lässt in seiner filmischen Betrachtung zu Kiefers Werk munter Assoziationen und offene Fragen sprudeln. Er verleiht tatsächlich der Erfahrung einer Annäherung Ausdruck, nicht nur im rationalen, sondern zuvorderst im erlebenden Sinne. Sein Zugriff auf Leben und Schaffen Anselm Kiefers ist in erster Linie ein sinnlicher. Wenn sich die Tore zu Kiefers Atelier in Croissy bei Paris öffnen, blickt man in entgrenzte Dimensionen. In einer riesigen Halle, bis zur Decke gefüllt mit vollendeten und unvollendeten Werken und Materialien, beginnt die Erkundung einer jahrzehntelangen Karriere. Kiefer selbst, inzwischen 78 Jahre alt, fährt dabei auf dem Fahrrad durch die Gänge. Zu Fuß wäre man wohl eine halbe Ewigkeit unterwegs. Aus diesem immensen vorbeiziehenden Fundus Beispiele auszuwählen, das ist die große Herausforderung, der sich Wenders stellen muss.Anselm ist einer von zwei neuen Filmen des Regisseurs, die im Mai 2023 in Cannes Premiere feierten. Der andere, das Drama Perfect Days über einen japanischen Toilettenputzer, startet im Dezember. Es sind zwei beachtliche, ambitionierte Spätwerke, die Wim Wenders vorlegt. Anselm ist Werkschau, Geschichtsstunde, Künstlerporträt, Dokumentar- und Spielfilm zugleich, verdichtet zum Essay. Er offenbart Stimmungen und Deutungsrahmen von Kiefers Œuvre, welches seit jeher das Unbequeme und Skandalöse nicht scheut.Kiefer kam kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Welt. Dessen Erbe spielt in seiner Kunst eine prägende Rolle. Neben Metaphysik, Alchemie, Literatur und Philosophie wendet sich Kiefer in seinen Gemälden, Fotografien, Skulpturen und Installationen den Abgründen deutscher Geschichte zu. Heldenmythen, pervertiert durch die Nazis, spuken umher. Gewalt und Zerstörung werden in hypnotische, düstere Sinnesreize übersetzt. Ende der 1960er posiert Kiefer in Wehrmachtsuniform – Selbstporträts gegen das Vergessen. Was Wenders, der für den Dreh über zwei Jahre in Kiefers Welt eintauchte, dazu an Kontexten liefert, ist jedoch recht schwammig gestrickt. Kontroverse Rezeptionsgeschichten werden ausschnitthaft über eingespieltes Archivmaterial vermittelt. Der öffentliche Künstler setzt sich aus einer Fülle an Dokumenten zusammen. Seine Weltsicht wird hier zum unübersichtlich montierten Wust an Zitaten, Zuschreibungen und äußeren Eindrücken. Verstand und reiner Affekt kommen sich fortlaufend in die Quere. Filme im Film, Theater, bildende Künste und Literatur sollen zum großen Opus verschmelzen. Martin Heidegger, Paul Celan und Ingeborg Bachmann sind als Impulsgeber mit dabei. Das komplexe gestalterische Prinzip stößt jedoch an Grenzen, wenn es darum geht, Gedanken reifen zu lassen, in tiefere Strukturen vorzudringen. Stattdessen schichtet Anselm eine filmische Ebene nach der anderen über seinen Protagonisten und dessen ohnehin herausforderndes Werk.Gesprochene Voiceover-Texte raunen bedeutungsschwer. Vorgefundenes und neu Inszeniertes vermengen Fakt und Fiktion, konfrontieren Kiefer mit seinem jüngeren Ich, heben Chronologien aus den Angeln, verkomplizieren den Film aber unnötig. Wo das überfrachtete Formenspiel nach Essenzen gräbt, verharrt es umso stärker in oberflächlichen ästhetischen Überwältigungsstrategien. Es bekommt seinen Protagonisten selten zu fassen, verliert sich im Rauschzustand. Also wird Kiefer irgendwann selbst zur mythischen und mystischen Gestalt erhöht, die geistergleich, ätherisch durch die Szenen streift. Vor dem schwülstigen Pathos, der etwa schon Wenders’ Doku über Papst Franziskus (2018) durchzog, ist auch dieser Film nicht gefeit. Beinahe stiehlt es dem Wesentlichen die Show: dem überragenden 3-D-Einsatz.Allein dieser technische Kniff der räumlichen Erfahrung genügt inmitten all der wirr angerissenen Exkurse, um eine anregende Begegnung mit Kiefers Lebenswerk zu ermöglichen. Wenders nutzt 3-D nicht nur für die reine Immersion, sondern auch dazu, das Auratische, also das Unnahbare und Einmalige der Kunst, in den Kinosaal zu übertragen. Die Aufnahmen von Kameramann Franz Lustig verleihen Kiefers Arbeiten mit virtuoser Tiefenwirkung eine enorme Plastizität und Imposanz. Ihre Illusion und Spannung zwischen suggerierter Unmittelbarkeit und radikaler Distanzierung durch das Medium steigert der 3-D-Effekt ins Unermessliche. Die künstlerische Praxis selbst wird so zum Spektakel: Wenn Kiefer mit Feuer und anderen Elementen experimentiert, mit Hebebühnen Wände erklimmt, Farbschichten aufträgt, dann entsteht daraus ein faszinierendes Schauspiel, auch ohne viele Worte.Kunst als Arbeit, Arbeit als Kunst. In diesen konzentrierteren, zurückhaltenden Beobachtungen kommt der Film zu sich. Ebenso dann, wenn er schiere Ausmaße erkundet und selbst installative Züge annimmt, gerade wenn er das französische Barjac betritt. Ein etwa 40 Hektar großes Gelände hat Kiefer dort in sein Reich verwandelt. Katakomben und Gänge wühlen sich archaisch in die Erde. Klötze und Türme stehen ruinengleich in der wilden Landschaft. Zwischendrin lauern die eingangs beschriebenen Kleider. Mitunter wähnt man sich in der sagenumwobenen Zone aus Andrei Tarkowskis Kultfilm Stalker (1979).Und der Künstler setzt sich nie zur Ruhe. Wenders zeigt Kiefer als Rastlosen. Barjac, dieses augenweidende und unheimliche Kunst-Universum, eröffnet einen sich immer weiter ausdehnenden Eskapismus, der zugleich Vergänglichkeit atmet. Er strebt in das Kommende, noch Unbegreifbare und steht im Zerfall. Seine Monumente rütteln an kulturellen Konstanten. Seine Vision bleibt kryptisches Rätsel, doch das Kino kann zumindest dessen Atmosphären atmen. In der Dauer der Einstellungen und im Blick durch die 3-D-Brille werden sie gefiltert und studierbar, ohne sie dafür entzaubern zu müssen. Wim Wenders mag es seit Jahren schwer haben, an frühere Erfolge anzuknüpfen. An Talent als verführerischer, neugieriger Bildkünstler hat er indes nichts eingebüßt.Eingebetteter MedieninhaltPlaceholder infobox-1
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