„Women in Revolt!“ in der Tate Britain: Die Frau als Snackautomat
Ausstellung Die angeblich größte Schau, die es je in der Londoner Tate Britain zu sehen gab, widmet sich feministischem Protest von 1970 bis 1990 und lohnt sich sehr
Dieser Schrei ist in London auch zu sehen, dauert drei Minuten und endet mit einer Art Lachen: „3 Minute Scream“ (Gina Birch, 1977)
Foto: Courtesy of the Artist
Am 20. November 1970 präsentierte der US-amerikanische Komiker Bob Hope in der Royal Albert Hall in London die jährliche Wahl der Miss World. Die Show wurde live auf BBC One übertragen. „Das ist ein ganz schöner Viehmarkt“, war einer seiner augenzwinkernden Sprüche. „Ich war dahinten und habe mir Kälber angesehen.“ Augenblicke später begannen Frauen, Mehlbomben in seine Richtung zu werfen.
Wer bei solchen abstoßenden Gags Wut empfindet, für den ist dies die richtige Ausstellung: Women in Revolt! in der Tate Britain in London beginnt im Jahr 1970 mit Protesttransparenten gegen die Miss-World-Shows – „Wir sind nicht schön. Wir sind nicht hässlich. Wir sind wütend“ – und der ersten Fraue
nd der ersten Frauenbefreiungskonferenz, die im Ruskin College in Oxford stattfand und von der damals 20-jährigen Chandan Fraser fotografiert wurde. Ihre Bilder zeigen die ganze Bandbreite von ernsten Debatten bis hin zu Lachern, Wut, Freundschaft und mütterlicher Freude.Den Angaben der Kurator:innen zufolge handelt es sich um die mit Abstand größte Ausstellung, die jemals in der Tate Britain gezeigt wurde, mit mehr als 100 Künstler:innen und Kollektiven. Wer sie besucht, sollte sich so viel Zeit wie möglich nehmen, denn es gibt so viel zu sehen, zu lesen und aufzusaugen in dieser kolossalen Manifestation der Sozialgeschichte Großbritanniens.Sie reicht vom Streik der Arbeiterinnen bei der Fotoverarbeitungsfirma Grunwick 1976, den Protesten der Friedensbewegung am Stützpunkt der Royal Air Force Greenham Common ab 1980, dem gewaltsamen Zusammenstoß von Ordnungskräften und streikenden Bergarbeitern bei Orgreave 1984, Protesten gegen die Schließung von Kindergärten, die gerade erst eröffnet worden waren, Versuchen, das Gesetz zur Lohngleichheit von 1970 durchzusetzen (was erst nach fünf Jahren gelang), bis zu den Anti-Pornografie-, Pro-Choice- und Reclaim-the-Night-Märschen der 1970er.Sie umfasst außerdem die ganze Breite der kreativen Nutzung von Fotokopien, Collagen, Interventionen und Performances, von Kunst auf Plakatwänden und Bibliothekswänden, bis zu Flugblättern und Zines sowie Leinwand und Skulptur.Sie erstreckt sich sogar bis in die Gärten des Museums, wo die fabelhafte Multimedia-Künstlerin Bobby Baker den Besucher:innen Tee serviert, und zwar in einer vollständigen Nachbildung ihres berühmten Stücks An Edible Family in a Mobile Home von 1976. Das winzige Fertighaus, in dem die Künstlerin damals lebte, ist vom Boden bis zur Decke mit Zeitungsartikeln aus den 70er Jahren tapeziert, von den Jackie-Magazinen im Schlafzimmer der Tochter, die den Mädchen erklären, wie sie über die Zurückweisung eines Jungen hinwegkommen können, bis hin zu den schockierend sexistischen Artikeln der Daily Mail im Wohnzimmer. Alle anderen Familienmitglieder, vom Vater, der es sich in seinem Sessel bequem macht, bis zum Sohn in der Badewanne, sind aus Kuchen und Keksen gemacht. Nur die Mutter ist beweglich, eine Plastikpuppe, mit der man durch die Gegend laufen kann und aus deren Bauchfächern man Snacks bekommt – ein lebensgroßer Snackautomat.Viele dieser Künstlerinnen konnten ihre Werke nirgendwo ausstellen oder waren gezwungen, von zu Hause aus zu arbeiten. Das Medium wurde Notwendigkeit und Botschaft zugleich. Sie benutzten Dias, die in ganz Großbritannien verschickt und in jedem Maßstab projiziert werden konnten. Sie webten, stickten und strickten. Rita McGurns lebensgroßes Frauentrio, das auf einem gehäkelten Teppich liegt, ist selbst ein Häkelwerk, für das sie alle Wollreste verwendete, die sie finden konnte. Eines der berührendsten Werke ist ein Eierkarton mit winzigen Emblemen einer schrecklichen Ehe in jedem Fach, von einem Puppenarm bis zu einem Spielzeug-Polizeihelm.Kunst und Protest werden untrennbar. Toll ist zum Beispiel Alexis Hunters The Marxist’s Wife (still does the housework), wo der Titel so stark ist wie das Bild einer Frauenhand, die auf 20 Drucken versucht, das Gesicht von Karl Marx zu reinigen, wobei der Schmutz einfach immer dicker wird.Die Weigerung von Marx, Arbeit innerhalb und außerhalb des Hauses gleichzusetzen, könnte als Thema für die Schau dienen. Man sieht es an dem verzweifelten Alltag in einer Londoner Spielzeugfabrik, der in einer Installation von Mary Kelly, Margaret Harrison und Kay Hunt festgehalten wurde: Frauen, die um fünf Uhr aufstehen, um ihren Männern und Kindern Frühstück zu machen, bevor sie das Haus putzen und dann zur Arbeit gehen, nur um zur Kinderbetreuung und zum Abendessen zurückzukehren. Man sieht es in Maureen Scotts starkem Gemälde Mother and Child at Breaking Point, wo der Säugling heult, während die Frau starr und erschöpft versucht, weiterzumachen.Ein noch stärkerer Abschnitt zeigt Gemälde von Claudette Johnson, Lubaina Himid, Sonia Boyce und anderen Künstlerinnen, die mit der Blk Art Group verbunden sind, einem Zusammenschluss schwarzer Künstler:innen. Besonders bissig ist das auf Holz gemalte Bild Dog Years von Himid, auf dem ein weißer Mann aufrecht steht, dessen Phallus ein bösartiger Hund ist.Es gibt hier noch viele andere Klassiker. Traurig ist allerdings, dass viele der hier vertretenen großen Künstlerinnen erst nach ihrem Tod die ihnen gebührende Würdigung in den Galerien erhielten.Placeholder infobox-1
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