Zensur oder Staatsräson?

Kommentar Der "Fall Parfjonow" und die Pressefreiheit in Russland

Tschetschenien, Ränke der Geheimdienste, Reanimation der Zensur in Russland - alle skandalträchtigen Themen verhäkeln sich in Moskau zu einer weiteren Folge der Endlos-Serie: Wie demokratisch ist Russland? Es geht um die Entlassung des bekannten TV-Moderators Leonid Parfjonow. Der Kanal NTV hatte ihm vor wenigen Tagen den Stuhl vor die Tür gesetzt, nachdem Parfjonow das Verlangen des NTV-Managements öffentlich gemacht hatte, ein Interview mit der Witwe des in Katar bei einem Attentat getöteten tschetschenischen Ex-Präsidenten Selimchan Jandarbijew aus dem Programm zu nehmen. In Katar waren nach dem Anschlag drei russische Bürger unter dem Verdacht verhaftet worden, an dem Terrorakt beteiligt gewesen zu sein. Einer davon wurde dank eines Telefonats von Präsident Putin mit dem Scheich von Katar freigelassen - den beiden anderen droht ein Prozess. Sollten sie schuldig gesprochen und verurteilt werden, dürfte die russische Führung erneut intervenieren. Soweit der politische Hintergrund beim Streit um Parfjonow, der wieder einmal die Frage provoziert: Wird die Zensur in Russland als politisches Instrument recycelt? Zu erklären, dass es keine Zensur gibt, wäre naiv - zu behaupten, dass sie besteht, unvorsichtig.

Der Kreml ist bestrebt, den medialen Informationsfluss zu kontrollieren - vorrangig dann, wenn staatliche Interessen tangiert werden. Das galt ohne jeden Zweifel für das Interview mit der Jandarbijew-Witwe. Der Kaukasus überhaupt und Tschetschenien im Besonderen berühren das so heikle wie sensible Thema der staatlichen Integrität der Russischen Föderation. Wer der Einheit des Landes aus Sicht des Kremls schadet, muss mit Reaktionen rechnen, die Sanktionen sein können. Die Journalisten vieler Medien kennen und befolgen dieses ungeschriebene Gesetz. Sie kritisieren die Regierung und den Präsidenten, ohne die bewusste "rote Linie" zu übertreten, und werden im Gegenzug weder mit Verboten noch Unannehmlichkeiten behelligt. Ein informelles, nicht öffentliches Agreement, das als eine Gepflogenheit des postsowjetischen Zeitalters gelten darf.

Als im Oktober 1993 eine große westeuropäische Zeitung unmittelbar nach dem Beschuss und der Erstürmung des von einem Teil seiner Abgeordneten besetzten russischen Parlaments beim Verfasser dieser Zeilen einen Kommentar dazu bestellt hatte, wurde dieser Text wegen einer einzigen Passage nicht gedruckt. Sie bezog sich auf das verfassungswidrige Vorgehen des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin. Mir wurde erklärt, die Redaktion müsse auf Politiker im eigenen Land Rücksicht nehmen, die Jelzins Handlungsweise unterstützten. Dennoch würde ich in diesem Fall nicht von Zensur, sondern einer Abwägung von Interessen sprechen.

Die Moskauer Journalistengemeinde jedenfalls ist aufgebracht über den "Fall Parfjonow" und seine möglichen Folgen - aber niemand macht sich über das NTV-Management lustig.


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