D er türkische Präsident Erdoğan verdankt seinen knappen Sieg den Dörfern Anatoliens und den Großstädten Westeuropas. In Istanbul, einer Metropole, in die man Berlin drei- oder viermal hineinpacken kann, gab es für sein Referendum keine Mehrheit. Den Teil der Bevölkerung, der für die Zukunft der Türkei am wichtigsten ist, hat er nicht für sich gewonnen – trotz des riesigen Aufwands, den er im Wahlkampf getrieben hat. Das zeigt, wie sehr man dort auf dem Weg nach Europa schon vorangekommen ist.
Umso unbehaglicher wird dem Betrachter bei der Frage, weshalb sich in den Ländern der Europäischen Union, gerade auch in Deutschland, so viele Befürworter des Referendums fanden. Haben wir uns Falsches eingeredet, wenn wir leichthin befanden, die Türken lebten bei uns nicht in einer Parallelgesellschaft? Haben wir uns allzu selbstgefällig, aber schwer irrend der Überzeugung hingegeben, die Eltern der Kinder, die mit unseren Kindern dieselben Schulen besuchen und in denselben Fußballvereinen kicken, seien wie diese bestens integriert? Viele Türken, die längst als Mitbürger akzeptiert sind, empfinden das offensichtlich anders. Viele – aber wohl nicht alle. Doch auch da könnte man sich täuschen. Nicht alle von denen, die in Berlin, Frankfurt oder München das Referendum ablehnen, werden sagen, dass sie von ihren deutschen Nachbarn akzeptiert werden wie französische oder schwedische Nachbarn. Bei der Wohnungssuche, bei der Stellenbewerbung, überall, wo der türkische Name genannt wird, sind Unterschiede in der Akzeptanz erfahrbar und werden als Zurücksetzung erfahren. Es ist in Deutschland viel erreicht worden bei der Integration. Aber das Thema hat sich noch lange nicht erledigt. Und man kommt bei diesem Thema auch nicht besser voran, wenn Streit über türkische Innenpolitik in deutschen Städten hitzig ausgetragen wird. Das Problem bleibt.
Dennoch: Warum entscheiden sich Türken, die seit Jahren und Jahrzehnten in Westeuropa die Vorzüge einer freien Gesellschaft, einer demokratisch gewählten Regierung, einer rechtsstaatlich funktionierenden Verwaltung erleben und genießen, für ein autoritäres Präsidialsystem, dessen Erfinder und erster Profiteur soeben zeigt, wie er seine Macht zu gebrauchen weiß? Die Antwort darauf ist leider älter als das Problem: Wer Freiheit und Demokratie genießt, macht sich keine Gedanken darüber, was sie bedeuten. In den anatolischen Dörfern mag man mit solchen Begriffen noch nichts anfangen können. In westeuropäischen Großstädten sind sie fast allen vertraut – und vielleicht zu selbstverständlich.
Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.