Den Ehrentitel „Maalem“ erkennt man im Maghreb denjenigen zu, die eine Handwerkskunst bis zur Vollendung gemeistert haben. Und Halim (Saleh Bakri) hat diesen Titel zweifellos verdient: In seinem Atelier in der marokkanischen Stadt Salé näht er Kaftane für eine weibliche Kundschaft, genau so, wie es ihm einst sein Vater beigebracht hat. Die wunderschönen, bodenlangen Gewänder fertigt er aus erlesenen, festen und zugleich feinen Stoffen, die er dazu noch mit filigranen Verzierungen in leuchtendem Garn bestickt und mit handgemachten Ösen und Knöpfen versieht. Halim zufolge muss ein Kaftan „die Zeit überdauern“, da er von Mutter zu Tochter weitergegeben wird und seine ursprüngliche Trägerin also überleben sollte. Ei
Eine Nähmaschine will er daher nicht verwenden, zum Verdruss einiger ungeduldiger Kundinnen.Diese hält ihm seine Ehefrau Mina (Lubna Azabal) in der Regel mit energischer Geschäftstüchtigkeit vom Hals, während Halim sich in seine Nähstube zurückzieht. Seit 25 Jahren sind die beiden verheiratet. Ihr Umgang miteinander ist von einer unaufgeregten, stillen Vertrautheit geprägt, die sie manchmal durchbrechen, um sich über besonders freche Forderungen so mancher Kundin lustig zu machen. Lediglich Minas erneut auftauchende Krebserkrankung scheint diese Harmonie zu stören. Jetzt fällt ihr die Arbeit im Atelier zunehmend schwerer. Da sie viele Aufträge zu erledigen haben, trifft es sich gut, dass der fleißige Youssef (Ayoub Missioui) bei Halim in die Lehre geht und bald schon große Fortschritte beim Nähen macht – und das, obwohl Halim sich ihm gegenüber demonstrativ reserviert verhält. Erst mit der Zeit stellt sich heraus, dass Halim mit seiner Zurückhaltung lediglich zu überspielen versucht, dass er sich zu Youssef hingezogen fühlt.Strafbar nach Artikel 489Das Blau des Kaftans ist der zweite Spielfilm der marokkanischen Regisseurin Maryam Touzani, die sich 2014 in ihrem Dokumentarfilm Sous ma vieille peau (deutsch: Unter meiner alten Haut) mit Prostitution in Marokko auseinandersetzte und in ihrem Spielfilmdebüt Adam 2019 von ungewollter Schwangerschaft und Mutterschaft erzählte. Wie bereits Adam wurde Das Blau des Kaftans im vergangenen Jahr in die Festivalsektion „Un certain regard“ der Internationalen Filmfestspiele von Cannes aufgenommen und dort mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet. Es ist ein stilles Drama, das sich mit einer lediglich im Verborgenen tolerierten Homosexualität auseinandersetzt. In Marokko können entsprechende Handlungen gemäß Artikel 489 des dortigen Strafgesetzbuches eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren nach sich ziehen.Maryam Touzani greift das Thema ausgesprochen feinfühlig auf: An Halims diskretem Gebaren ist deutlich abzulesen, welche Spuren die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung und gesellschaftlichen Ächtung über Jahrzehnte hinterlässt. Saleh Bakri spielt ihn mit Bravour als verschlossenen, in sich zurückgezogenen Mann, der mit Hingabe seine Arbeit ausführt, aber kontaktscheu bleibt und jegliche Konfrontation meidet. Seine Homosexualität bleibt im gesamten Film unausgesprochen, er lebt sie lediglich im Hamam aus, den er hin und wieder aufsucht und in dem sich Männer wortlos durch Blicke zum Sex in Nebenräumen verabreden.Letzte LebensfreudenSubtil vermittelt Das Blau des Kaftans auch, dass Mina um Halims Homosexualität weiß und die Ehe in Übereinkunft über diese Tatsache geschlossen wurde. Auf die sich langsam entfaltende Zuneigung zwischen Halim und Youssef reagiert sie dennoch zunächst gereizt. Als zwischenzeitlich ein rosa Satinstoff aus dem Atelier abhandenkommt, macht sie Youssef dafür verantwortlich, der sich davon gekränkt fühlt. Doch ihr Misstrauen gegenüber Youssef weicht bald der Gewissheit, dass sie sterben wird und Halim ungern seiner von verinnerlichter Scham geprägten Einsamkeit überlassen will.Während ihre Krankheit voranschreitet, lässt Mina ihrer letzten Lebensfreude freien Lauf, begehrt zunehmend gegen die Sittsamkeitsansichten ihrer Umgebung auf und ermutigt Halim auf diese Weise indirekt, mehr aus sich herauszugehen und Youssefs Avancen zu erwidern. Der titelgebende blaue Kaftan nimmt im Verlauf dieser Geschichte über eine zweifache Emanzipation im Angesicht eines bevorstehenden Verlusts Symbolcharakter an: Eine besonders herrische Kundin hat ihn in Auftrag gegeben und schneit nun regelmäßig im Geschäft vorbei, um sich darüber zu beschweren, dass er immer noch nicht fertig sei. Davon unbeeindruckt bestickt Halim den glänzenden blauen Stoff mit größter Sorgfalt und bringt Youssef bei, wie man Symmetrie im Ornament erzielt und dafür sorgt, dass der Kaftan eine Generation überdauert. Dann versucht eine andere Kundin, ihm den Kaftan für mehr Geld abzuschwatzen. Doch Halim weist sie brüsk zurecht, als sie dessen Farbe als Königsblau bezeichnet – es sei Petrol.Eingebetteter MedieninhaltDer Dialog weist zurück auf die wunderschöne Eröffnungsszene, in der die von Virginie Surdej mit äußerstem Bedacht geführte Kamera über den auf Halims Nähtisch abgelegten Stoff fährt und dabei dessen Wölbungen und Raffungen erkundet. Im sacht ins Atelier scheinenden Licht leuchtet der unbewegte Stoff mal dunkelblau, dann wieder türkis auf, was der scheinbaren Uneindeutigkeit der Farbe Petrol geschuldet ist – weder vollends blau noch vollends grün, aber dennoch von einer kraftvollen Klarheit.Halim bearbeitet diesen Stoff mit ungeheurer Hingabe, während gleichzeitig seine Welt mit Minas nahendem Tod auseinanderzubrechen droht. Er wird zum Sinnbild ihrer Beziehung, die weder eine Zweckgemeinschaft noch eine den religiösen und moralischen Ansichten ihrer Umgebung entsprechende Ehe darstellt, sondern schlicht von einer intensiven gegenseitigen Zuneigung geprägt ist. Das Blau des Kaftans macht die Tiefe dieser Beziehung in einer homophob gesinnten Gesellschaft ohne viel Aufhebens oder eindeutige Worte erfahrbar – ebenso wie der Stoff, den Halim in Nahaufnahmen verarbeitet und der beim Betrachten fast ertastbar erscheint, am Ende dieses sehenswerten Films aber seine wahre Bestimmung findet.Placeholder infobox-1