Früh, vielleicht zu früh, kommt in The Crowded Room der Gedanke auf, dass Protagonist Danny Sullivan (Tom Holland) kein verlässlicher Erzähler seiner Lebensgeschichte sein könnte. Da wären die in Rückblenden etwas schablonenhaft gezeichneten Figuren, mit denen Danny trotz seines verschüchterten Einzelgänger-Gebarens ganz frei interagiert. Mit einer dieser Figuren, Ariana (Sasha Lane), begeht er in der ersten Folge einen Mordversuch. Wie es dazu kam und ob Danny gar ein Serienmörder sein könnte, soll die Psychologin Rya Goodwin (Amanda Seyfried) in Gesprächen mit ihm herausfinden. In welche Richtung ihre Nachforschungen gehen könnten, offenbart der Titelvorspann: Daniel Keyes’ 1981 erschienenes Buch The Minds of Billy Mi
inds of Billy Milligan wird dort als Inspirationsquelle angeführt.Billy Milligan (1955 – 2014) beging Ende der 1970er mehrfach Vergewaltigungen und Raubüberfälle, berief sich aber in seiner Verteidigung auf eine multiple Persönlichkeitsstörung. In einem aufsehenerregenden Gerichtsverfahren wurde Milligan tatsächlich aufgrund dieser Erkrankung für unzurechnungsfähig erklärt und entging dem Gefängnis – und das, obwohl die Existenz dieses Krankheitsbilds damals wie heute in Fachkreisen angezweifelt wird. Anders in Hollywood, wo von Hitchcocks bahnbrechendem Schocker Psycho (1960) über den mit Sally Field besetzten Fernsehfilm Sybil (1976) bis hin zu jüngeren Beispielen wie Fight Club (1999) und Identität (2003) die dissoziative Identitätsstörung gerne ausgeschlachtet wird als schockierende Twists und facettenreiches Schauspiel versprechendes Thriller-Motiv. Milligans Geschichte diente bislang eher lose als Inspiration, wie in M. Night Shyamalans Split (2016) oder im True-Crime-Sektor etwa in der Netflix-Dokuserie Monsters Inside. Die 24 Gesichter von Billy Milligan (2021).Eingebetteter MedieninhaltAuch The Crowded Room assoziiert sich trotz der zeitlichen Situierung Ende der 1970er nur lose mit dem Fall Billy Milligan. So ist Tom Hollands Danny kein Vergewaltiger; brutale Versionen seiner selbst treten nur in akuten Bedrohungssituationen hervor. Die problematische Dimension der Täter-Opfer-Umkehr, die dem Fall Milligan stets anhängt, ist hier also nicht gegeben. Folglich kann sich Showrunner Akiva Goldsman (Drehbuchautor unter anderem von A Beautiful Mind) davon unbelastet Dannys fragmentierter Identität widmen.In der ersten Hälfte ist das aufgrund des bedächtigen Erzähltempos mitunter mühsam. Die ersten Folgen wollen Rätsel aufgeben, deren Lösung aber fürs Publikum sehr offensichtlich ist, mindestens von der Szene an, in der Danny in einen Spiegel schlägt und seine zersplitterte Reflexion betrachtet.Aber The Crowded Room entwickelt einen Spannungsbogen, der nicht nur an der Enthüllung von Dannys psychischer Erkrankung hängt, sondern deren Vielschichtigkeit und Ursachen angeht. Ab der fünften Folge rückt Dannys Kindheit in den Vordergrund und das Ausmaß seiner frühen Traumatisierung entfaltet sich auf schmerzlich berührende Weise. Dies ist nicht nur dem im Verlauf von The Crowded Room zunehmend geforderten, fein getakteten Schauspiel von Tom Holland zu verdanken, sondern auch dem empathischen Zugang zu weiteren Figuren der Serie.So widmet sich die sechste Folge ganz der Psychologin Rya und ihren professionellen Beweggründen, die wiederum bis dahin ausgesparte Dimensionen ihrer eigenen Identität offenbaren. Auch aus diesen ergibt sich kein ebenmäßiges Persönlichkeitsbild, wie ihr Ex-Mann Greg an einer Stelle feststellt: „Man weiß bei dir nie, wen man kriegen wird.“ Ähnliches gilt auch für Dannys rätselhafte Mutter Candy (Emmy Rossum) oder seinen zunächst so abgeklärt daherkommenden Anwalt Stan Camisa (Christopher Abbott). Beide tragen Schuldgefühle mit sich herum, für deren Unterdrückung sie völlige Selbstentfremdung und Isolation in Kauf nehmen.Eindrucksvoll vermittelt die Serie, welche Facetten unserer selbst wir wann und weshalb ans Licht bringen und welche der Umgebung für immer verborgen bleiben. Dass die Miniserie mit inszenatorischen Schwächen dabei etwas unausgewogen daherkommt, ist schade – fügt sich aber fast angenehm an die Thematik des frakturierten Selbst an.Placeholder infobox-1