Geknetete Moral

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der Donnerstag-Abend steht im Zeichen der Moral. Das Harbour-Front-Literatur-Festival hat zu einem Vortrag mit Shootingstar-Philosophen und Bestseller-Autor Richard David Precht geladen. 800 interessierte Bürgerinnen und Bürger sitzen daher auf weißen Plastikstühlen im provisorischen Kreuzfahrt-Terminal in der Hamburger Hafen City. Wir auch. Neben uns zwei Frauen mittleren Alters mit identischer 100 EUR-Stufenfrisur und sportlich-elegantem Zwirn. Sie kennen den Redner aus zahlreichen Talkshows. Der Redner verspäte sich um 15 Minuten, so der Moderator der Veranstaltung. Eine Ankündigung, die neben uns mit verärgertem aber noch immer sportlich-elegantem Gemurmel aufgenommen wird. Ich sehe meine Gelegenheit, pirsche mich an den beiden Damen vorbei (ärgerliches Gemurmel), um doch noch einen Rotwein zu erwerben, pirsche dann wieder zurück, weil die Schlange noch immer endlos ist (ärgerliches Gemurmel).

Nach einer Viertel Stunde betritt Precht die Bühne und lässt uns sogleich töten. Es dreht sich um die „affektive Tötungshemmung“. Ein führerloser Zug rauscht in Gedanken an uns vorbei. Wir stehen an einer Weiche. Auf dem linken Gleis steht ein Mensch auf dem rechten fünf Menschen. Der Zug fährt auf die fünf Menschen zu. Würden wir den Hebel umschalten, um fünf Menschenleben zu retten und einen Menschen zu töten? Neben mir schnellen zwei Hände hoch. Sie melden sich wie Lehrertaschen-Trägerinnen, indem sie auch noch mit den einzelnen Fingern winken. Na klar! Mit ihren Manolo-Blanik-Tretern im Kiesbett kurz vorm Bahnhof Hamburg-Altona retten sie heroisch fünf Gleisarbeitern das Leben. Aber mir meinen Rotwein verwehren wollen. In der zweiten gedachten Situation stehen wir auf einer Brücke, unter uns fährt ein führerloser Zug vorbei. Wir sehen fünf Gleisarbeiter, die vom Zug erfasst würden, wenn wir den dicken Mann, der vor uns auf der Brücke steht, nicht schubsten, um den Zug aufzuhalten. Würden wir schubsen? „Das ist doch Mord!“ ertönt es neben uns.

So ist das mit der Moral, eine höchst flexible Angelegenheit und jederzeit nach der eigenen Fasson formbar. Abstraktionen machen mir manchmal Schwierigkeiten. Ich stelle mir einen Klumpen Knete vor. Eine Knetmasse, die wenn nötig in Einmärsche geformt wird, um für Menschenrechte zu kämpfen. Sprudelt noch ein wenig Öl bei der Aktion heraus, ist es natürlich Zufall und moralisch zu vertreten. Ist es auch Zufall, dass Geld umgangssprachlich als „Knete“ bezeichnet wird?Mir fällt spontan die „intelligente Knete“(thinking putty) für Kinder ein. Eine Knete, die hüpft, zersplittert, leuchtet. Die Homepage wirbt für Knet-Modelle mit den Namen „Krypton“, das radioaktiv grün leuchtet, oder „ Ölfleck“. Passt irgendwie.

Precht indes ist mittlerweile bei der Verhaltens-Forscherin und UN-Friedensbotschafterin Jane Goodall angekommen, die mit ihren Langzeit-Studien über Schimpansen und Gorillas berühmt geworden ist. Eine Ironie des Schicksals.Noch vor wenigen Tagen sollte Jane Goodall im neu erbauten Unilever-Gebäude, das nur ein paar Schritte vom Veranstaltungsort des heutigen Abends entfernt liegt , zur offiziellen Botschafterin der „Umwelthauptstadt Hamburg“ (Man verzeihe mir die Springer-esquen Tüttelchen) ernannt werden.

Ungünstig nur, dass Unilever für nahezu jede Herstellung seiner Produkte, von Dove bis Rama, Palmöl aus Sumatra verwendet.Der Gewinnung dieses Öls sind Siedlungsplünderungen und –natürlich- immense Regenwald-Abholzungen vorausgegangen. Unilever ist einer der größten Palmölverbraucher der Welt. . https://www.regenwald.org/mailalert/747/rama-die-blutige-margarine-aus-dem-hause-unilever.

Erst NACHDEM zahlreiche Umwelt-Initiativen wie Robin Woodgegen die Verleihung im Unilever-Haus protestiert hatten, wurde der Festakt in das Hamburger Rathaus verlegt. Das Unilever-Haus sei ursprünglich wegen seiner ökologischen Bauweise ausgesucht worden. Aber: „Niemand wolle der berühmten Schimpansen- und Gorillaforscherin Goodall zumuten, in eine Debatte hineinzugeraten, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit ihrem Besuch in der Hansestadt stehe. Schließlich sei sie in der Stadt, um Botschafterin der Umwelthauptstadt Europas 2011 zu werden und über ihre weltweiten Naturschutzaktivitäten und ihr neues Buch zu berichten.“, so die Umweltbehörde. Unilever war dann auch einverstanden mit dem Ortswechsel. PR? Moral? Moralische PR?Publikumswirksame Moral?

Eines steht wieder einmal fest: Gut geknetet Hamburg!

Auch der Abend mit Herrn Precht geht unter tosendem Applaus zu Ende.Es war ein interessanter Abend auf biegsamen weißen Plastikstühlen. Vielleicht habe ich nicht richtig aufgepasst, aber eine eindeutige, messerscharfe Definition des Begriffes „Moral“ ist mir noch immer nicht möglich. Ich kann ja schlecht mit meinerKnetmassen-Theorie kommen…. Eines habe ich dennoch gelernt: fehlende bis gar keine Moral haben immer nur die Anderen oder eine abstrakte Masse wie die „Menschheit“. ...und die sportliche Eleganz neben mir lässt den Abend mit Signaturstunde und Rotwein ausklingen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden