Sommernachtstraum in Altona

Hamburg zu Fuß Seit Doris Brandt einen Kinderwagen durch Hamburg schiebt, hat sie ganz neue Perspektiven auf die Stadt. Diesmal besucht sie einen Friedhof und trifft dort Picknicker

Ich hatte immer ein entspanntes Verhältnis zu Friedhöfen. Aufgewachsen zwischen zwei sogenannten Gottesäckern, habe ich hier die Grundrechenarten gelernt, Sterbejahr minus Geburtsjahr ist gleich erreichtes Alter. Dennoch sehe ich heutzutage zumeist von abendlichen Friedhof-Spaziergängen ab, obwohl mir ein Training im Kopfrechnen sicherlich nicht schaden würde.

Leer stehende Ladenräume einer ehemaligen Videothek, die ein paar DVD-Hüllen im staubigen Schaufenster hinterlassen hat. Auf der anderen Straßenseite Abriss-Schutt eines Hauses, das Platz für ein nächstes macht. Ein Dreier-BMW zieht Bässe hinter sich her, und ein paar zerzauste Tauben streiten sich um eine weg geworfene Big-Mac-Schachtel. Von dieser wenig idyllischen Großstadtszenerie an einem Werktag-Abend führt ein kleiner unscheinbarer Weg durch die Mai-grünen Bäume zu einem unscheinbaren Tor. Die mit Graffiti übersprühte Parkordnung aus dem Jahr 1975 gibt Parköffnungszeiten vor. Um 20 Uhr sollte der Park laut Ordnung geschlossen sein. Es ist um neun, die Eisentür ist sicherlich seit Jahren nicht mehr abgeschlossen worden. Leute in weiten Hosen, Jogger und Biertrinker mit Sixpacks unter dem Arm passieren sie an diesem frühsommerlichen Abend.


Balancierende Elfen und Grillanzünder

Das Park-Tor teilt die Außenwelt von der Park-Welt, den Bauschutt von knorrigen alten Baumalleen, Big Mac von Mystik. Mittwochabends, ein paar Meter hinter einem Graffiti-Tor in Hamburg-Altona, beschleicht mich ein Gefühl, angesiedelt irgendwo zwischen Sommernachtstraum, Gebrüder Löwenherz und privater Gartenparty. Ich bin mir sicher, kämen ein paar Elfen um die Ecke, würden sie sich bestimmt gut verstehen mit der jungen Frau, die sich im Dämmerlicht ein elastisches Seil zwischen zwei Bäumen gespannt hat, um darauf zu balancieren. Die Elfen würden dann ein Astra trinken und sich auf einer gummierten Picknickdecke ausstrecken. Der Park ist ein Park und schon lange kein aktiver Friedhof mehr, wenn man Friedhöfen überhaupt die Eigenschaft „aktiv“ verleihen kann. Dennoch steigt ganz leicht so etwas wie ein Friedhofsgeruch in die Nase. Ein Gemisch aus Rhododendron und Moos, der sich jedoch mit dem Duft von Würstchen und Grillanzünder vermengt. Vereinzelt stehen Flaschen auf den verwitterten Grabsteinen: Flensburger Maibock und Fritz-Melonen-Limonade. Ein Dreibein-Grill lehnt vergessen an einer Gedenktafel.

Die vielen so unterschiedlichen Menschen genießen den ersten richtigen Frühsommer-Abend. Aber wir haben es hier nicht mit einem Fackelmann-Grill-Mega-Event zu tun. Jeder hat den Park für sich. Es spielen sich ganz unterschiedliche Szenen ab, an fast geheimen Orten. Eine Gruppe Mittfünfziger meditiert während nebenan ein paar Skater Astra trinken und sich Mann und Frau gegenseitig einen Theatertext abfragen. Hinten, neben dem Mausoleum des Oberpräsidenten der ehemaligen Stadt Altona, Conrad Daniel von Blücher-Altona, spult derweil ganz langsam jemand im letzten Gegenlicht seine Tai-Chi-Übungen ab. Auf einem Rasenquadrat freuen sich Schulkinder, dass sie am nächsten Tag schlulfrei haben, und preparieren ein abendliches Picknick auf gummierten Wolldecken. Viele kleine Geschichten, getrennt voneinander durch Hecken, knorrige Bäume oder eben Grabsteine aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die das Stimmenwirrwarr ein wenig verschlucken. Wäre ich tot, würde ich mich über diese Gesellschaft freuen.

Der Friedhof Norderreihe wurde im Jahre 1831 eröffnet. Die letzte Beisetzung fand hier 1945 statt. In der Nachkriegszeit wurden in den Grabgängen Kartoffeln angepflanzt, viele der damals schon knorrigen Alleebäume mussten als Feuerholz herhalten. 1978 wurde aus dem ehemaligen Friedhof der Wohlers Park und der wurde schließlich zur öffentlichen Grünanlage ernannt. Bis zum vergangenen Jahr gab es hier auch Elfen. Oder fast. „Elfen im Park“ so hieß eine Theatergruppe, die hier jeden Sommer zwischen Skulpturen und Grabplatten Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt und natürlich Shakespeares Sommernachtstraum aufführte. Die Kulisse war ja schon da.

Ich muss gehen. Draußen warten Bauschutt und Big Mac. Im Vorbeilaufen ziehe ich noch ein paar Geburtsjahre von Sterbejahren ab. Ich kann' s noch.

Doris Brandt, Freitag-Autorin und Community-Mitglied, spaziert alle zwei Wochen am Dienstag mit ihrer Tochter durch Hamburg. Und zeichnet so ihr eigenes Stadtbild

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