Bahnreise

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Auf der anderen Seite des Gangs, schräg gegenüber, liest ein Anfangsfünfziger unerbittlich ZEIT. Gleich nach Duisburg blättert er gnadenlos das Feuilleton auf, ungeachtet seiner Nachbarin, Kurzhaarschnitt, blond, die seit Bremen schweigsam in ihrem Buch liest. Nein, ich komme nicht auf den Gedanken, nach dem Buchtitel zu schielen. Trotz Großraumwagen ist es still, einziges Geräusch bleibt das Rascheln von Papier.

Er trägt eine fesche beigefarbene Ballonmütze, von der ich auch aus der kurzen Distanz nicht erkenne, ob sie aus Stoff ist oder aus Leder, das Gesicht hat sympathische Falten wie ein Blues von John Lee Hooker. Sperrige Locken unter der Mütze.

Die junge Frau mir gegenüber: eine grandiose Erscheinung von Unaufdringlichkeit, mit Sorgfalt gepflegt. Ihr schulterlanges Haar glänzend schwarz, Gesicht ungeschminkt, der kurze Pony ist an beiden Seiten bis zu den Schläfen geschnitten, eine Renaissance von Memphis und Theben, gen Null reduzierte Körperlichkeit, sie trägt Schwarz. Stieg sie in Bremen zu? Doch schon in Harburg? Herzerwärmend. Sie lächelt. Nein, nicht über meine ausgefallene Kopfbedeckung. Sehr dunkle Augen. Ich lege die Sandelholzstrafe beiseite.

Nach Koblenz fahre sie. Ihre Gegenwart, gelegentlich ein Blick, absichtslos: wie angenehm kann Bahnreisen sein. In Osnabrück nehme ich die Mütze vom Kopf. Als ich mich in Köln verabschiede, wünsche ich eine gute Reise. Wider Erwarten entspinnen sich einige Sätze. Das wohltuende Empfinden von Sehnsucht und Melancholie.

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Geschrieben von

Dreizehn

Lebe in einem Winkel der Stadt, lese, schreibe gelegentlich.

Dreizehn