Von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin?

EU-Demokratie stärken Am 16. Juli entscheiden die 751 EU-Parlamentarier ob Frau von der Leyen Kommissionspräsidentin wird.

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Das Ergebnis der Wahl ist schwer prognostizierbar.

Für von der Leyen werden vermutlich die 182 Parlamentarier der EVP und die 62 Parlamentarier der rechtsnationalen EKR stimmen. Das reicht nicht, denn Frau von der Leyen braucht mindestens 374 Stimmen!

Wie verhalten sich die 108 Liberalen, die 54 Fraktionslosen, die 73 stramm rechten ID-Abgeordneten (mit der ital. Lega und der AfD)? Alles offene Fragen!

Es scheint derzeit sicher, dass die Grünen ( 74 Stimmen) und die Linken ( 41 Stimmen) Frau von der Leyen nicht wählen werden.

Wahrscheinlich ist es so, dass die SPD bzw. die Fraktion „Sozialisten & Sozialdemokraten“ (S&D) mit ihren 152 Stimmen die Rolle des „Zünglein an der Waage“ übernehmen.

Insbesondere für die deutschen Sozialdemokraten, die sich im Sturzflug befinden, ist es lebensrettend, jetzt Rückrat zu zeigen, und Wahlversprechungen einzuhalten!

Denn:

  1. Am 7. Februar 2018 beschloss das Europäische Parlament – natürlich auch mit den Stimmen der S&D - mit Zwei-Drittel-Mehrheit, dass der künftige Kommissionspräsident aus dem Kreis der Spitzenkandidaten kommen müsse, „damit die europäischen Bürger bei der Wahl zum Europäischen Parlament entscheiden können, wer zum Präsidenten der Kommission gewählt werden soll“. Und: Wir sind „bereit, jeden Kandidaten abzulehnen, der im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament nicht als Spitzenkandidat benannt wurde“
  2. Am 28. Mai 2019, zwei Tage nach der Europawahl, bekräftigten die Fraktionsvorsitzenden im Europaparlament (EVP, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale), dass jede Anwärterin und jeder Anwärter auf das Amt des Kommissionspräsidenten zuvor „eine EU-weite Wahl-Kampagne“ geführt haben müsse, in der das „Programm und die Persönlichkeit bekannt gemacht“ wurden..

Wenn von diesen Vereinbarungen Abstand genommen und das EU-Parlament und die Wählerinnen und Wähler ignoriert wurden, die sich auf die jeweiligen Spitzenkandidaten fokusiert haben, dann ist Widerstand dagegen demokratische Pflicht!

Zwei Motivkomplexe waren für die EU-Elite um Macron und Merkel ausschlaggebend, den zitierten Parlamentsbeschluss zu ignorieren:

  • die Idee einer Europäischen Verteidigungsarmee, für die Frau von der Leyen gut zu gebrauchen ist;
  • die Angst der Visegràd-Staaten weiterhin für ihr fremden- und demokratiefeindliches Verhalten von EU-Seite kritisiert zu werden, so wie dies der engagierte Kandidat der S&D Timmermans tat.

Die vier osteuropäischen Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei wollten vor allem den Sozialdemokraten Timmermans verhindern, der schon vor der EU-Wahl die fremden- und demokratiefeindliche (Infragestellung der Unabhängigkeit der Justiz und Einschränkung der Pressefreiheit) dieser Staaten kritisierte.

Zoltán Kovács, Staatssekretär und Pressesprecher Viktor Orbáns twitterte dann auch unmissverständlich am 2.Juli: „Nachdem wir Weber besiegt und Timmermans abserviert hatten, haben wir ein Personalpaket auf den EU-Tisch gelegt, das sich wachsender Zustimmung unter den Mitgliedsstaaten erfreut: Die vier Visegrád-Staaten unterstützen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als nächste Kommissionspräsidentin.“

Aber: Die EU muss die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, dass ihre Wahl Sinn macht, dass sie auch beachtet wird. Das EU-Parlament kann dies am 16.Juli tun, indem es Frau von der Leyen die Zustimmung verweigert.

Es braucht in Europa ein starkes und selbstbewusstes Parlament, das zu seinen Wahlversprechen steht! Und es braucht Parlamentarier mit Rückgrat, die sich nicht von machtpolitischen Spielchen im Hinterzimmer beeindrucken lassen!

Das Parlament muss sich also auf die Machtprobe mit den Staats- und Regierungschefs einlassen.

Sollte dies nicht passieren, und die Parlamentarier lassen sich auf dubiose Deals ein und stimmen dem Personalpaket von der Leyen und Co. zu, dann haben sie die historische Chance, ein Zeichen für die Demokratie in Europa zu setzen, versemmelt. Weitere Demokratieverdrossenheit und Stärkung der rechten Europafeinde wären die Folgen.

Im Vertrag zur EU heißt es in Artikel 17 (7): „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen (…) einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor (…).

Lehnt nun am 16. Juli das EU-Parlament die Kandidatin ab, dann bedarf es einer erneuten Kandidatensuche – aber diesmal mit „entsprechenden Konsultationen“, das EU-Parlament betreffend.

Es besteht kein Grund zur Eile, denn die jetzige Kommission ist bis Ende Oktober (2019) im Amt.

Der Rat hätte also dann - nach Konsultationen mit dem Parlament - neue Vorschläge zu unterbreiten. Dem EP wiederum muss dann die Möglichkeit gegeben werden, ausführlich zu diskutieren und sich mehrheitlich auf einen Kommissionspräsidenten zu einigen - zunächst durch einen indikativen Mehrheitsbeschluss, der dem Rat als Orientierung dient - und dann folgt, nach dem vorgesehen Prozedere, eine verbindliche Abstimmung im EP.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Erich Becker

Buch- und Theater-Autor

Erich Becker

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