Der Prozess gegen die Protagonisten der katalanischen Unabhängigkeit ist in seine Schlussphase getreten. Am 4. Juni trug die Anklage ihr abschließendes Plädoyer vor, eine Woche später die Verteidigung. Was die drei Staatsanwälte zu sagen hatten, füllte vier erschöpfende Stunden aus, wovon hier nur auf den Auftritt des „Stars“ unter ihnen, Javier Zaragoza, eingegangen werden soll. Er möchte die ganze Zeit die Argumente der Verteidigung widerlegen und sich dabei durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte absichern, wohl ahnend, dass dieser Prozess dort sein Nachspiel haben wird. Bei den Vereinten Nationen hat das bereits stattgefunden, denn die Working Group for Arbitrary Detention (Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen/WGAD) fordert die sofortige Freilassung der Untersuchungshäftlinge.
Prompt spricht die spanische Regierung von einer Komplizenschaft der WGAD mit den Katalanen. Das erwähnt Zaragoza freilich nur am Rande. Wichtiger ist ihm die „Entwaffnung“ der Verteidigung, indem er die Existenz eines Rechts auf Selbstbestimmung, eines Grundrechts zum Protest und natürlich die Existenz von politischen Gefangenen bestreitet. Für die spanischen Medien sind es „gefangene Politiker“, mit einem kleinen Problem: Zwei der Angeklagten sind gar keine. Beweise zu den Straftaten, die den Angeklagten vorgeworfen werden, wie Rebellion und Veruntreuung öffentlicher Gelder – Fehlanzeige.
Höhenflug und Bruchlandung
Stattdessen wird unversehens Jürgen Habermas als Kronzeuge der Anklage aus dem Hut gezaubert. Dieser hatte gegen die Abspaltung von Territorien durch Minderheiten eingewendet: Bevor über die Legitimität eines Sezessionsprojekts entschieden werden kann, muss die Legitimität des Status quo widerlegt werden. Nach Javier Zaragoza kann in einem durch und durch demokratischen Staat wie Spanien die Legitimität des Status quo von niemandem bezweifelt werden. Dabei gibt es durchaus Zweifel am Zustand der Demokratie und des Rechtsstaats in Spanien. Gerade anlässlich des Referendums zur Unabhängigkeit am 1. Oktober 2017 bekamen Tausende von Katalanen am eigenen Leib den Repressionsapparat des Staates zu spüren. Im Übrigen hat gerade Habermas das Recht auf Dissidenz und zivilen Ungehorsam stets betont, ein Recht, für das der Habermas-Freund Zaragoza jetzt 25 Jahre Haft fordert.
„Ungehorsam“ ist der allein strafrechtlich relevante Vorwurf, den der Staatsanwalt immer wieder gegen die Angeklagten erhebt. Dummerweise hat dieser jedoch nach spanischem Strafrecht schlimmstenfalls Amtsenthebung, jedoch keine Haftstrafe zur Folge. Und dummerweise reklamieren die Angeklagten genau das Habermas’sche Recht auf zivilen Ungehorsam. Wie der Rechtsphilosoph José Luis Martí in einem Kommentar treffend bemerkt: „Benutzt nicht missbräuchlich den Namen von Habermas.“
Die „Wasserstoffbombe“ (José Luis Marti), mit der Zaragoza den Prozess für sich entscheiden will, kommt aber noch: Er hat – man weiß nicht wo – den Namen des österreichischen Rechtstheoretikers Hans Kelsen aufgestöbert, der sich mehr aus technischer Sicht mit dem Aufbau verfassungsmäßiger Ordnungen befasst und meint: Das Rütteln an deren oberster Instanz, nämlich der Verfassung, etwa durch Massenproteste, stelle einen „Staatsstreich“ dar. In diesem Sinn ist die französische Republik nach 1789 Ergebnis eines Staatsstreichs. Allgemeiner geht danach jede verfassunggebende Versammlung, da sie mit der bisherigen Legalität bricht, aus einem Staatsstreich hervor. Das Problem für den Staatsanwalt: Der „Staatsstreich“ kommt als Tatbestand im spanischen Strafrecht gar nicht vor. Zusammengefasst heißt das, strafrechtlich relevante Argumente zu den Anklagepunkten Rebellion und Veruntreuung, die sich aus der Auswertung der Beweislage, also aus Tatsachen, ergeben, fehlen praktisch in Zaragozas Plädoyer. Sie werden durch philosophische Höhenflüge und Bruchlandungen ersetzt. Das bisschen, was er und später Staatsanwalt Jaime Moreno (mit der argumentativen Glanznummer, die Parole „Wählen ist keine Straftat“ sei falsch, denn ließe man ein nicht wahlberechtigtes Kind wählen, so stehe das wohl unter Strafe) zur Abstützung der Anklagepunkte vorbringen, ist dürftig und widersprüchlich. So wird dem zuständigen Ex-Conseller Joaquim Forn (Ministerium für Inneres in der damaligen katalanischen Regierung) vorgeworfen, für den Polizeieinsatz während des Referendums am 1. Oktober 2017 die Priorität „wirksames Vorgehen“ zur Verhinderung der Abstimmung durch „Aufrechterhalten des öffentlichen Friedens“ ersetzt zu haben. Dabei war die Priorität „öffentlicher Frieden“ von der Madrider Regierung vorgegeben. Was stichhaltige Beweise zu einer von den Angeklagten organisierten Gewalt angeht – entscheidende Voraussetzung für eine Rebellion –, ebenfalls nullkommanichts.
Nun zum Plädoyer des Verteidigers Andreu van den Eynde, der Oriol Junqueras (Ex-Vizepräsident unter Puigdemont) und Raül Romeva (Ex-Conseller für Außenbeziehungen) vertritt. Der Anwalt sieht im Prozess eine Suspendierung von Grundrechten zugunsten einer „Justiz gegen den Feind“. Statt mit Beweisen und Tatsachen werde mit Übertreibungen und politischem Druck auf die Angeklagten gearbeitet. So wurde einigen nach dem Bericht der Working Group for Arbitrary Detention Schonung versprochen, wenn sie dem Unabhängigkeitsprojekt abschwören. Und zur politischen Stoßrichtung des Prozesses: Dieser wurde schon Jahre zuvor mit einer illegalen und heimlichen Überwachung aller katalanischen Institutionen eingeleitet.
Die Basis jedoch sind Lügen, die in Widersprüche münden. Man nehme nur Aussagen der Mossos de Esquadra (katalanische Polizei), die ein Fundament der Anklage bilden. Diego Perez de los Cobos, der den Polizeieinsatz am 20. September 2017 leitete, verneinte noch am gleichen Tag, dass die öffentliche Ordnung gefährdet worden sei, um dann von Polizisten vor Gericht, die „Apokalypse“ ausmalen zu lassen. Es wurde ein Beamter als Zeuge zugelassen, dessen Aussage ein anderes Gericht als „unglaubwürdig“ verworfen hatte. Noch paradoxer ist der Umstand, dass die Anklage das Referendum als massenhaften Aufstand wertet, aber kein einziger der über zwei Millionen „Aufständischen“ vor Gericht steht. Denn Abstimmen ist nicht strafbar. Katalanischen Politikern wird vorgeworfen, durch Vorträge in Brüssel öffentliche Gelder veruntreut zu haben, nicht jedoch, wenn sie in Spanien auftraten.
Kernstück der Anklage ist die Behauptung, es habe einen schriftlichen „Fahrplan“ zur Unabhängigkeit gegeben. Aber keiner weiß, wer den verfasst hat. Die Rede ist von einem „Aufstand“, aber die Anklage sagt nicht einmal, wann dieser stattgefunden haben soll. Ganz abgesehen davon, dass die Verteidigung diskriminiert wird, wenn ihr Beweismaterial vorenthalten wird. 60 dicke Ordner liegen in Barcelona im berühmten „Juzgado Nr. 13“ unter Verschluss, ohne dass Anwälte der Angeklagten dazu Zugang haben. Jedenfalls hat Andreu van den Eynde sein Plädoyer mit dem Appell abgeschlossen, ein Zeichen für ein „demokratisches Strafrecht“ zu setzen und „den Ball an die Politik zurückzugeben“.
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