Das Sozialticket: Ein Desaster ohne Lösung

Soziales Mit dem neuen Berliner Sozialticket-Verfahren werden soziale Grundrechte und der Datenschutz verletzt. Eike Meier verlangt eine pragmatische Lösung – und plädiert langfristig für einen kostenlosen öffentlicher Nahverkehr

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Kann sich nicht jede:r leisten: Tramfahren in Berlin
Kann sich nicht jede:r leisten: Tramfahren in Berlin

Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP/Getty Images

Das neue Verfahren zum Berliner Sozialticket für Bus und Bahn, das ab den 01. Oktober endgültig durchgedrückt werden soll, stellt einen beispiellosen Angriff auf das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sowie auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz) dar.

Es geht um soziale und kulturelle Teilhabe, aber auch um die Fahrt zum Arzt, zur Arbeit oder zum Amt. Ja, viele, die Sozialleistungen beziehen, arbeiten: zu Niedriglöhnen oder in 1-Euro-Jobs, in Werkstätten für behinderte Menschen oder im Ehrenamt, in der Pflege von Angehörigen usw. Viele können aber aufgrund von Alter, Krankheit oder Behinderung nicht oder nicht voll arbeiten oder finden keinen Arbeitgeber, der sie aufnimmt.

Der alte berlinpass: einfach und gut

Mit dem alten berlinpass war alles besser: Es ging einfach, schnell, unbürokratisch und ohne zusätzliche Registrierung von sensiblen Daten. Sobald der Bescheid über die Bewilligung von Sozialleistungen da war, konnte der berlinpass bei einer Vorsprache beim Bürgeramt ohne Termin in wenigen Minuten ausgestellt oder verlängert werden. Noch am selben Tag war damit das Sozialticket, das man separat über alle Verkaufswege der BVG kaufen kann, nutzbar. Alles ohne QR-Code und Plastikkarte: Jahrelang hat das für alle Beteiligten halbwegs funktioniert.

Die Übergangsregel und ihr drohendes Ende

Um die Bürgerämter zu entlasten, obwohl berlinpässe dort am Empfang ohne lange Wartezeiten und auch fürs Personal schnell und unkompliziert bearbeitet wurden, und um Kontakte wegen der Corona-Pandemie zu vermeiden, wurden dann in der Regel keine berlinpässe mehr ausgestellt oder verlängert. Stattdessen sollten der Leistungsbescheid und ein amtlicher Lichtbildausweis bei Fahrkartenkontrollen vorgezeigt werden. Diese Übergangsregel wurde nach Einführung des neuen Verfahrens im vergangenen Dezember immer wieder verlängert. Denn das neue Verfahren funktioniert nicht.

Noch kurz vor Ablauf der letzten Frist am 30. Juni war vonseiten der zuständigen „Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung“ auf berlin. de zu lesen, dies sei die letzte Fristverlängerung. Viele Betroffene sahen sich damit konfrontiert, dass sie ab Juli das Sozialticket nicht nutzen können, dieses also faktisch für einen Teil der Zielgruppe abgeschafft ist. Nun wurde dieses Szenario auf den Oktober verschoben. Viele Betroffene waren und sind verzweifelt. Das neue Verfahren ist nicht nur ein Übergangsproblem.

Das neue Verfahren: ein Desaster

Das neue Verfahren, zusätzlich zum Bescheid und zum Ticketkauf einen „Berechtigungsnachweis“ UND danach noch eine „VBB-Kundenkarte Berlin Ticket S“ zu benötigen, ist in jeder Hinsicht eine Zumutung, ein Bürokratiemonster und eine Hürde, die für viele zu hoch ist. Das Grundrecht auf Datenschutz wird an mehreren Stellen verletzt.

Desaster Part 1

Der Berechtigungsnachweis wird nicht etwa, wie es am Anfang geplant und als „Vereinfachung“ beworben wurde, für alle Berechtigten vom Amt direkt mit dem Bescheid zugeschickt, sondern nur grundsätzlich, aber mit vielen Ausnahmen. Bei manchen Sozialleistungen muss er eigens beantragt werden. Und im Fall von Leistungen vom Jobcenter wird er durch eine andere Stelle „zentral“, wie es nebulös im FAQ auf berlin. de heißt, ausgestellt und verschickt. Was das für eine zentrale Stelle ist und auf welcher Rechtsgrundlage sensible Daten verarbeitet werden, bleibt ohne weitere Recherche unklar. Betroffene werden weder aktiv informiert, noch haben sie ihre Zustimmung zur Weitergabe von Daten erteilt.

Die Berechtigungsnachweise werden jedenfalls immer in bestimmten Kalenderwochen verschickt. Das heißt erstmal warten und das Ticket nicht oder nur mit Übergangsregel nutzen können. Leider ist es auch immer wieder zu fehlerhaften QR-Codes gekommen, die einer noch größeren Fälschungssicherheit dienen sollen, was den neuen Regeln zufolge den Berechtigungsnachweis unbrauchbar macht. Dieser wird aber benötigt, um in einem weiteren Verfahren die „VBB-Kundenkarte Berlin Ticket S“ erfolgreich zu beantragen. Und zwar digital – was digitale Kompetenzen und teure funktionierende Geräte voraussetzt, über die nicht alle verfügen – und nur in Ausnahmefällen auf Papier. Mit Formularen, für die wiederum ein weiterer Gang ins Amt nötig ist. Und dann auch nur per Post, nicht etwa direkt vor Ort in Berlin.

Desaster Part 2 und Exkurs: Datenschutz aushöhlen mit DSGVO

Die BVG hat dafür einen externen Dienstleister mit Sitz in Bamberg beauftragt, der alle persönlichen Daten speichern, bearbeiten und danach wieder löschen soll. Die BVG behauptet zwar, dass dies erforderlich sei und damit datenschutzrechtlichen Vorgaben entspreche. Das stimmt aber nicht: Die Bearbeitung war beim berlinpass ganz ohne Speicherung und anschließende Löschung von Daten möglich. Datensparsamkeit ist meistens der einfachste und beste Datenschutz.

Die BVG bzw. ein von ihr beauftragtes Unternehmen (bzw. bei Nutzung der Übergangsregel die Fahrschein-Kontrolleure und die umstehenden Personen) sollen also alle Infos bekommen, wer in Berlin Sozialleistungen bezieht, teilweise sogar (weil die Berechtigungsnachweise nur zum Teil datensparsam konzipiert sind und weil häufig die Übergangsregel genutzt werden muss), wer welche Art von Sozialleistungen bezieht, wer also z. B. erwerbslos, erwerbsunfähig oder SED-Opfer geworden ist, alles mit Foto, das bis vor Kurzem ausdrücklich biometrisch sein sollte, usw. Anders gesagt, Betroffene sollen zur „Zustimmung“ gezwungen werden, wenn sie günstig Bus und Bahn fahren wollen oder müssen.

Formal soll das Verfahren damit gemäß Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) abgesichert werden, faktisch ist es eine Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung bzw. eine Art Nötigung, Daten digital und bei Bedarf zusätzlich auf Papier, damit eine andere Person alles digitalisiert, weiterzugeben.

Dies ist ein häufiges Phänomen, seit die DSGVO in Kraft getreten ist und vielerorts eine „Zustimmung“ bzw. „Einwilligung“ verlangt wird. Zwar ist rechtlich eine echte Freiwilligkeit vorgesehen, wenn diese aber nicht ernsthaft überprüft wird, läuft die Kontrolle durch betriebliche oder staatliche Datenschutz-Beauftragte ins Leere. Erschreckend ist auch, wie viele Menschen es inzwischen als selbstverständlich erachten, jede Art persönlicher Daten egal wohin zu senden, der Weitergabe an weitere Stellen zuzustimmen usw. Wer das nicht mitmachen will, steht schnell als seltsam, nervig oder verdächtig da – oder hat Schwierigkeiten, Bus und Bahn zu fahren.

Die damalige auf Vorschlag der rot-schwarzen Koalition gewählte Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (BlnBDI) Maja Smoltczyk hat noch während der Corona-Pandemie nach vielen Beschwerden die Übergangsregel mit dem Leistungsbescheid sowohl wegen fehlender Erforderlichkeit von Daten als auch wegen fehlender Freiwilligkeit kritisiert. Die damalige rot-rot-grüne Senatsverwaltung hatte laut BlnBDI-Pressemitteilung vom 01.03.2021 allen Ernstes argumentiert, die Nutzung des Angebots sei freiwillig, da Betroffene ja auch die regulären Angebote ohne Ermäßigung nutzen könnten.

Der Leistungsbescheid für die Übergangsregel sollte zunächst ausdrücklich im Original vorgezeigt werden, erst nach Kritik wird nun eine geschwärzte Kopie empfohlen. Vieles muss aber erkennbar bleiben, damit es bei der Ticketkontrolle akzeptiert wird.

Die inzwischen auf Vorschlag der rot-grün-roten Koalition gewählte BlnBDI Meike Kamp hat zwar unter anderem Möglichkeiten von Schwärzungen des Personalausweises überhaupt erst durchgesetzt und begleitet das Verfahren kritisch, lässt es aber offenbar trotz vieler Beschwerden im Großen und Ganzen einfach weiterlaufen, obwohl sich Fragen nach Erforderlichkeit und Freiwilligkeit mit Blick auf die neue „VBB-Kundenkarte Berlin Ticket S“ noch drängender stellen, oder sie verfügt nur über sehr begrenzte Kontrollbefugnisse.

Neben vielen anderen rechtlichen Aspekten stellt sich auch die Frage, ob das Verfahren mit dem Personalausweisgesetz vereinbar ist, da der Ausweis oder Pass kopiert werden muss und nur zum Teil geschwärzt werden kann (und die Senatsverwaltung noch nicht einmal darüber aufklärt). Dabei hat eine Identitätsprüfung bereits im Antragsverfahren stattgefunden und war beim berlinpass durch einfache Sichtung vor Ort ohne Kopieren und Speichern datensparsam möglich.

Desaster Part 3

Aber auch Betroffene, denen Datenschutz egal ist, verzweifeln am Verfahren. Denn nachdem eine komplizierte Liste an persönlichen Papieren durchgearbeitet werden und damit die „VBB-Kundenkarte Berlin Ticket S“ beantragt werden muss, folgt wieder eine Zeit des Wartens, da es sich um eine Plastikkarte handelt, die erst hergestellt und dann per Post verschickt werden soll. Auch das funktioniert oft nicht. Wer digital hip und fit ist und Formate wie jpg versteht, kommt erstmal klar und scannt alles ein. Aber häufig bricht der Vorgang aufgrund technischer Probleme ab. Wer es per Post versucht, bekommt ebenfalls häufig keine Plastikkarte. Dann aber kann es sein, dass der QR-Code verfallen ist und alles von vorne losgeht: Um es erneut zu versuchen, braucht man erst einen neuen Berechtigungsnachweis…

Immer neue Beschwerden und doch keine Lösung in Sicht

Es haben sich seit Einführung des Verfahrens so viele Menschen beschwert, dass die BVG inzwischen sogar in ihr Impressum den Hinweis aufgenommen hat, sich bei Fragen zum Sozialticket an das Portal berlin. de zu wenden. Dort findet man ein FAQ und etwas versteckt eine offenbar eigens für Beschwerden zum Sozialticket geschaffene Mailadresse der zuständigen Senatsverwaltung. Nein, das ist alles kein Scherz.

Man kann sich darüber wundern, dass es den zuständigen Stellen selbst nicht schon längst zu wahnwitzig geworden ist. Aber statt das Verfahren noch einmal neu zu überdenken und einfache Lösungen zu schaffen, wird das FAQ immer komplizierter. Die Übergangslösung wird zwar immer wieder verlängert, aber immer nur befristet, statt wenigstens durch eine Entfristung das Problem etwas zu entschärfen.

Ohne Angst vor Kontrollen Bus und Bahn fahren, nachdem man ein Ticket gekauft hat, wird so in Zukunft in Berlin für viele nicht mehr möglich sein. Trotz Ticket und Berechtigung 60 Euro bezahlen müssen – nicht im Ernst, oder? Eine pragmatische Lösung ist hier gefragt, ob mit altem berlinpass oder neuem Berechtigungsnachweis.

Warten auf das menschenwürdige Existenzminimum

Die Nutzung des Sozialtickets war auch mit berlinpass dann nicht möglich, wenn das Amt zu lange für die Bearbeitung des Antrags gebraucht hat. Wer etwa Wohngeld oder Bürgergeld beantragt, wartet oft Monate lang auf den Bescheid, übrigens nicht nur wegen Personalmangels, sondern häufig wegen rechtswidriger Vorgänge. Mit dem neuen Verfahren wird das Problem aber noch verschärft, weil ein weiteres Antragsverfahren durchlaufen und davor auf den Berechtigungsnachweis und danach nochmal auf die Plastikkarte gewartet werden muss. Wer aber zum Berechtigungskreis gehört, muss das Sozialticket auch tatsächlich nutzen können, selbstverständlich vom ersten Tag an, zur Not auch rückwirkend. Auch das wäre nur ein Kompromiss, denn viele, die Anspruch auf Sozialleistungen haben, stellen erst gar keinen Antrag und bleiben auch von Ermäßigungen ausgeschlossen.

Das Deutschlandticket, weitere Tickets und Ticketkontrollen

Dass auch das „Deutschlandticket“ momentan nur kompliziert zu bekommen ist – nur als Abo, nur mit Konto, nur über Umwege bei schlechtem Schufa-Score, eventuell bald nur digital usw. – und mit 49,- Euro viel zu teuer ist, macht die Sache nicht besser, sondern ist auch ein Problem, liegt aber nicht in der Verantwortung der Menschen, die Sozialleistungen beziehen. Dass die Preise für Einzeltickets erhöht wurden und der Tarifdschungel dort fortbesteht, belastet auch viele. Bei verschiedenen Tickets mit Chips und Codes gibt es Probleme mit der Technik und mit dem Datenschutz. Sogar das an sich kostenlose Schülerticket ist mit einer digitalen Hürde versehen.

Dass bei Unklarheiten im Rahmen einer Kontrolle, ob man ein gültiges Ticket hatte, also nur 7 Euro oder doch 60 Euro zahlen muss, die Frist mit 7 Tagen sehr kurz ist und man nicht in einem BVG-Kundenzentrum in der Nähe die Sache klären kann, baut ebenfalls völlig unnötige Hürden auf. Etwa bei Krankheit oder für Menschen, die am Stadtrand wohnen. Ja, man könnte fast meinen, es wird versucht, den ÖPNV so unattraktiv wie möglich zu machen.

BVG, liebst du uns denn nicht mehr? Dass du nach dem Motto lebst „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, wissen wir schon, aber auch beim besten Willen ist es schwer, rund um den Ticketkauf alles richtig zu machen, um die Harmonie zu wahren. Und wenn jemand einen kleinen Fehler macht oder die Technik nicht funktioniert, werden deine Kontrolleure auch mal sehr schnell sehr aggressiv. Übertreibst du nicht ein bisschen mit dem Kontrollaufwand, etwa mit der „VBB-Kundenkarte Berlin Ticket S“? Wie hoch sind die Kosten, die du dadurch auf dich nimmst? Wie viele berlinpässe wurden denn früher so gefälscht?

Manchmal, wenn auch selten, gibt es eine einfache Lösung für gleich mehrere komplizierte Probleme. Ticketsysteme für Arme, Ticketsysteme für Normalverdiener, Tarifzonen, Ticketpreise und Ticketkontrollmechanismen – muss das sein? Den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, den sozialen und ökologischen Krisen gerecht werden, den Datenschutz achten – all das ginge am besten mit einem für alle kostenlosen ÖPNV. Wirklich mutig wären Schritte in diese Richtung. Bezahlbar wäre das, ob über Klima-Töpfe, Touristenabgabe oder Steuern für Reiche. Auch Menschen mit Demenz können Ärger bekommen und sogar im Gefängnis landen, wenn sie vergessen, Tickets zu kaufen. Nur ein ticketfreies Modell kann ihre Würde nachhaltig schützen.

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