Kampf um die Deutungshoheit

Antisemitismusdefinition Ist es antisemitisch, Israel zu kritisieren oder die Forderungen der Palästinenser*innen zu unterstützen? Geht es nach der IHRA ist dem so - doch die Realität ist weitaus komplexer. Ein Debattenbeitrag

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Was ist Antisemitismus? In den vergangenen Wochen ist besonders in den sogenannten sozialen Medien erneut die Diskussion aufgekommen, wie der Antisemitismus definiert werden muss und was darunter fällt. Die BRD erlebte in der jüngsten Vergangenheit immer wieder antisemitische Vorwürfe, wie die Documenta in Kassel, der kontroverse Auftritt des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas in Berlin und die permanente, im deutschen Diskurs nicht enden wollende Haltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Besonders im bundesrepublikanischen Diskurs verlagerte sich die Auseinandersetzung weg von einer analytischen Bestandsaufnahme hin zu einer emotionalisierten Betrachtungsweise, die jegliche ernsthafte Diskussion im Keim erstickt. Zentral in der Debatte bleibt die Haltung zum Staat Israel, deren innen- und außenpolitische Ausrichtung sowie das Schicksal der Palästinenser*innen. Dieser Dauerkonflikt schafft keine Besserung der materiellen Bedingungen in den jeweiligen Gesellschaften, sondern entwickelt sich immer deutlicher in einer innerdeutsche, toxische Auseinandersetzung, bei der logisch gültige Argumente keine Existenzberechtigung mehr haben, sondern das Urteil anhand plakativ-normativer Wertungen vorweggenommen wird. Der Vorwurf, man sei Antisemit*in wird dadurch immer weiter verwässert, er wird seinem Wesen nach entkernt und behindert den dringenden Kampf gegen den realexistierenden Antisemitismus, der in der BRD weiterhin grassiert und mehrheitlich gesellschaftsfähig ist.

Es geht also um die Frage, ob eine Kritik am israelischen Staat respektive die Unterstützung palästinensischer Forderungen antisemitisch sein können und falls ja, bis zu welchem Kern. Zentral stehen uns hierbei zwei Arbeitsdefinitionen des Begriffs „Antisemitismus“ zur Seite, die grundsätzlich in dieselbe Stoßrichtung gehen, allerdings bei der uns interessanten Fragestellung eine diametrale Haltung einnehmen. Die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) beschreibt den Antisemitismus als eine „bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“. Diese sehr zurückhaltende Definition wird durch die zweite Arbeitsdefinition der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA) dahingehend verschärft, dass es nicht nur Hass ist, der sich darin wiederfindet, sondern er sich auch in „Feindseligkeit oder Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden“ äußern kann. Dennoch gilt für beide in der Ausführung, dass der Antisemitismus eine rassistische Ideologie ist, die für Jüd*innen tödlich ist. Einig gehen sie auch in der Annahme, dass es einen strukturellen Antisemitismus gibt, der sich einer kodierten Sprache bedient, wie der „Kontrolle der Finanzinstitution“, oder auch bildlicher Mittel bedient, wie der Darstellung der Krake.

Der Unterschied wird dann deutlich, wenn es darum geht, Kritik am israelischen Staat zu formulieren. Die IHRA bietet seine sehr plakative Erklärung: Die Gleichsetzung von Jüd*innen sei ebenso antisemitisch konnotiert wie die Aussage, der israelische Staat sei rassistisch. Hier entsteht ein inhärenter Konflikt, da die Arbeitsdefinition widersprüchlich wirkt. Dass die jüdische Bevölkerung nicht mit dem israelischen Staat gleichgesetzt werden kann, ist offenkundig und bedarf keiner weiteren Erklärung. Jeder Versuch, Jüd*innen für die israelische Politik per se verantwortlich zu machen, ist als Antisemitismus zu werten. Doch dann verfällt die IHRA in die Äußerung, dass es auch einen antisemitischen Charakter hat, wenn man Israel anhand der materiellen und objektiven Bedingungen charakterisiert. Der Vorwurf, dies sei antisemitisch, lässt die Vermutung nicht negieren, dass seitens der IHRA mindestens eine subkutane Gleichsetzung zwischen dem Staat und Jüd*innen angenommen werden muss, denn er wird als „jüdische Entität“ betrachtet. Dieser Konflikt resultiert in einem Dilemma, dass die Arbeitsdefinition von materiellen Bedingungen befreit und eine rein idealistische Ausgangslage hat. So wird stets konstatiert, dass eine Kritik natürlich möglich ist, sie allerdings in einem eng gesteckten Rahmen erfolgen muss, der die Gleichsetzung mindestens vermuten lassen muss.

Darauf reagiert die JDA mit der Forderung, dass es nicht per se antisemitisch ist, die israelische Innen- und Außenpolitik als rassistisch zu bezeichnen. Sie geht sogar so weit, legitime Forderungen der Palästinenser*innen davon zu befreien, wie dem Spruch „From the River to the Sea“. Die IHRA-Definition betrachtet diesen Slogan als klar antisemitisch, da sie eine Implikation hineininterpretieren, die ihrem idealistischen Charakter gerecht wird. Für sie kann dies nur die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung darstellen, wenngleich das Gros der palästinensischen Bevölkerung dahinter die Forderung nach einem demokratischen und befreiten Staat verstehen. Ein befreites Palästina hat jedoch nicht zwangsweise die Folge, dass die jüdische Bevölkerung vernichtet werden muss. Diese Schlussfolgerung, die jene ziehen, welche sich besonders auf die IHRA-Definition beziehen, bedient dieselben rassistischen Elemente, wie sie Antisemit*innen vorgehalten werden. Die Gleichsetzung der Palästinenser*innen mit islamistischen Kräften wie der Hamas, die eine antisemitische Ideologie verfolgen, spiegelt das antisemitische Narrativ, jüdische Menschen seien mit dem israelischen Staat gleichzusetzen. Dass diese rassistische Ideologie an Verbreitung gewinnt, sieht man zuletzt an der Debatte über die Documenta. Jeder Bezug zum palästinensischen Befreiungskampf wird als antisemitische Tat bezeichnet und die notwendige Auseinandersetzung wird gar nicht erst gesucht.

Die definitorische Sonderbehandlung Israels resultiert aus einer Ideologie, die ernsthaft versucht, den Antisemitismus zu bekämpfen. Doch der Zionismus, der bereits zu Beginn seiner Entstehung kontrovers aufgenommen wurde, hat jeglichen progressiven Charakter verloren. Richtig ist, dass es verschiedene Strömungen gibt, doch der Zionismus in actu, also seine realpolitische Ausführung, lässt sich in Israel sehen, und diese Ausführung muss in die Analyse miteinfließen, wenn man den israelischen Staat verstehen möchte. Ihr selbstauferlegte „jüdische Charakter“ hat dabei die Funktion, ihn vor der Kritik zu schützen, wie ihn jeder bürgerliche und imperialistische Staat erfährt. Dass die Atommacht Israel mit ihrem militärischen Komplex einen asymmetrischen Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung führt, kann schwer geleugnet werden. Um sich der realpolitischen Konsequenz zu entziehen, wird allerdings das idealistische Narrativ bedient, dass man als „jüdischer Staat“ eine besondere Existenzberechtigung hätte, der sich jegliche Form der Selbstverteidigung auferlegen dürfe. Diese folgenschwere Logik wird von der IHRA-Definition gestützt und hiernach auch von einem Großteil derer im deutschsprachigen Diskurs Beteiligten, die eine (bedingungslose) Solidarität mit dem zionistischen Staat als Grundvoraussetzung verstehen, kein*e Antisemit*in zu sein. Dabei ist es irrelevant, ob man den Staat mit dem Apartheid-Regime in Südafrika vergleicht oder nicht, denn Realitäten existieren ohne Begrifflichkeiten. Sie helfen allerdings, materielle Bedingungen zu verstehen und einzuordnen. Es ist dabei nicht antisemitisch, diese Einordnung vorzunehmen, solange man den wissenschaftlichen Wert anerkennt und nicht emotionalisiert argumentiert.

So ist der Vorwurf, Israel sei ein Apartheid-Regime, dann gültig, wenn es die Kriterien erfüllt, was eine Apartheid ausmacht. Viele israelische und internationale Menschenrechtsorganisationen sehen diese Kriterien erfüllt, wonach diese Einordnung zulässig ist. Zuletzt tat dies Amnesty International (AI), die daraufhin – besonders in der BRD – einen Shitstorm erlitt, die in die Reflexhaltung führte, dass AI eine antisemitische Organisation sei. Das ist die Hauptproblematik: die Verweigerung der dringenden Auseinandersetzung materieller und objektiver Bedingungen und Realitäten. Doch der Vorwurf, man sei Antisemit*in, verkommt zu einer hohlen Phrase, die keinen inhaltlichen Wert mehr hat, besonders dann, wenn die IHRA ihre eigene Arbeitsdefinition widerspruchsvoll belässt. Die JDA versucht diesen Mangel auszugleichen, die den israelischen Staat versucht, als das einzuordnen, was er eben ist: ein bürgerlicher Staat, wie jeder andere auch. Die historische Notwendigkeit, aus dem er entstanden ist, befreit ihn dabei nicht von seinem imperialistischen Charakter, sondern muss ihn durch diese Notwendigkeit erst verstärken. Dass Israel ein mehrheitlich jüdischer Staat ist, befreit ihn nicht von der gebotenen Kritik an seiner Innen- und Außenpolitik, die für die Palästinenser*innen eine Katastrophe darstellt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden