Gibt es linken Antisemitismus?

Debatte Die Linksjugend veröffentlichte jüngst einen Instagram-Beitrag, in dem sie sich „gegen jeden Antisemitismus“ stellt. Sie prangern an, dass auch linker Antizionismus und Israelkritik antisemitisch sei. Diese Definition ist hochproblematisch.

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„Gegen jeden Antisemitismus“ fordert die Linksjugend [‘solid] jüngst in einem Instagram-Beitrag und kritisiert, dass auch „linke Räume“ nicht frei von ihm seien. In ihrem Beitrag wird dargelegt, dass mindestens 20 Prozent der Gesamtbevölkerung „latent antisemitische Einstellungen“ hätten und stellt damit richtigerweise sofort klar, dass man sich gegen diese Entwicklung stelle. Als linke Jugendorganisation ist es selbstverständlich, sich gegen diese Form der Unterdrückung und Ausgrenzung zu stellen. In ihrer Darlegung, weshalb die politische Linke Berührungspunkte mit antisemitischen Tendenzen hätte, bedienen die Autor*innen allerdings ein Erklärungsmuster, dass in sich geschlossen selbst Antisemitismus reproduziert. So wird einerseits keine klar erkennbare Trennung zwischen dem Staat Israel und jüdischen Menschen gezogen und andererseits wird eine bestehende Möglichkeit zwischen Antisemitismus und Kapitalismuskritik nicht negiert. Letzteres ist ein Resultat Vertreter*innen der sogenannten „Kritischen Theorie“, die eine angebliche „regressive Kritik“ am Kapitalismus anprangern, wonach eine Kapitalismuskritik nicht individualistisch formuliert werden dürfe. Diese Formulierung umfasst jedoch auch sekundäre Muster, wonach das Individuum primär nicht kolportiert werden müsste, sondern (sprachphilosophisch) mitgemeint werden könne. Diese Herangehensweise führt zur Konklusion der Autor*innen, wonach man den Antisemitismus „ohne jüdische Menschen“ denken könne. Diese Entwicklung, ein Produkt einer rein akademischen Betrachtungsweise der Problematik und real existierenden Gefahr, die sich hinter dem Antisemitismus befindet, ist jedoch hochproblematisch.

Die Frage, die sich auftut, ist, ob es einen linken Antisemitismus gibt. Zieht man die Definitionsgrundlage der Linksjugend [‘solid] heran, kommt man nicht umhin, diese Frage zu bejahen. Denn die Autor*innen haben sich vollkommen der postmarxistischen Deutungshoheit unterworfen, wonach Kritik am Zionismus respektive Israels eine Form des Antisemitismus darstellt. Das wird unter anderem damit begründet, dass die israelische Regierung kein Apartheidregime sei. Dass es sowohl bürgerliche als auch linke Menschenrechtsorganisationen, jüdisch und nicht-jüdisch, gibt, die den Umstand klar nachweisen, dass die israelische Regierung mit der palästinensischen Bevölkerung verbrecherisch umgeht, fließt in diese Betrachtungsweise gar nicht erst herein. Die Verschanzung in einem akademischen Elfenbeinturm versperrt den Bezug zu den objektiven und subjektiven Bedingungen vor Ort, was der Konklusion geschuldet ist, Israel als jüdische Entität zu betrachten. Die Gleichsetzung jüdischer Menschen mit dem israelischen Staat greift dabei kategoriale Einteilungen auf, wie sie auch der Antisemitismus vornimmt, der jüdische Menschen als gesonderte Gruppe betrachtet. Dass der Antizionismus per se nicht antisemitisch ist, ist auch darauf zurückzuführen, dass zu Beginn der zionistischen Bewegung besonders jüdische Menschen die Auffassung ablehnten und bekämpften; der Grund war, dass eine Assimilation vorzuziehen sei. Dass der Holocaust und die Gründung des Staats Israel dem Zionismus eine neue Grundlage gab, ist nicht zu bestreiten, allerdings ist diese Ideologie kein monokausaler Block.

Der real existierende Zionismus, auf den sich auch die Autor*innen beziehen, ist Ausdruck einer rechten israelischen Regierung, die diese Ideologie als Voraussetzung nimmt, um sich seit Jahrzehnten gegen UN-Beschlüsse zu stellen und Palästinenser*innen jegliche Rechte zu verweigern. Die Kritik daran als antisemitisch zu bezeichnen, lässt dabei mehr auf die Befürworter*innen dieser Konklusion schließen, als die Adressat*innen. Wenn Israel als bürgerlicher Staat als Linke anders behandelt werden muss, als andere bürgerliche Staaten, findet die weitere kategoriale Einteilung statt, die es eigentlich gilt, zu überwinden. Es gilt jedoch zu betonen, dass antizionistische Einstellungen Berührungspunkte mit Antisemitismus haben, wenn beispielsweise jüdische Menschen für die israelische Politik oder den Zionismus verantwortlich gemacht werden. Anstatt den Antizionismus mit dem Antisemitismus zu vermengen ist es daher geboten, eine klare Unterscheidung vorzunehmen, in dem das Judentum, die jüdische Kultur und die jüdischen Menschen eindeutig und klar von Israel und dem Zionismus getrennt werden. Überschneidungen dürfen nicht als Argument genommen werden, dass es sich um eine Gleichsetzung handelt.

Wie geht man mit „regressiver Kapitalismuskritik“ um? Dass Jüd*innen nicht für den Kapitalismus verantwortlich sind respektive dieser keine jüdische Erfindung ist, ist offenkundig. Doch ist es gleich antisemitisch, Beispiele von Kapitalist*innen zu bringen, die einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Systems haben, welche auch jüdisch sind? Jüd*innen sind keine homogene Masse, sondern den gleichen materialistischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen wie jeder andere auch. In einer Klassengesellschaft wie dem Kapitalismus gibt es jüdische Arbeiter*innen und jüdische Kapitalist*innen. Trotz der Tatsache, dass beide Jüd*innen sind, können ihre Interessen nicht unterschiedlicher sein. Dass es Jüd*innen gibt, die vom Kapitalismus profitieren, liegt nicht daran, dass sie jüdisch sind, sondern weil sie im Produktionsprozess die entsprechende Stellung einnehmen. Eine Kapitalismuskritik, die sich nur auf jüdische Kapitalist*innen bezieht, ohne die ökonomischen und historischen Grundlagen zu betrachten, die dem Kapitalismus innewohnen, ist dabei sehr wohl antisemitisch. Israel als bürgerlichen und kapitalistischen Staat definieren, was er aufgrund seiner materiellen Bedingungen ist, stellt keinen Antisemitismus dar; so auch nicht Äußerungen wie „forthemany, notthefew“ oder „gegen die oberen ein Prozent“, die von vielen sogenannten Antisemitismuskritiker*innen als antisemitisch bezeichnet werden, da, hier gehen die Autor*innen des Linksjugend-Posts wohl mit, Jüd*innen subkutan mitgemeint werden könnten.

Es wird daher immer wieder versucht, die Existenz eines linken Antisemitismus zu beschreiben. Man greift auf Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich Engels zurück, die in einem rohen Ton verfasst wurden; man rezipiert Propagandaplakate der Bolschewiki, die eine vermeintlich antisemitische Ästhetik übermitteln; oder man holt Kolumnen der konkret-Autorin und Mitglied der RAF Ulrike Meinhof hervor, in dem sie die Politik Israels mit dem deutschen Faschismus gleichsetzt. Es ist wichtig, hier eine Unterscheidung zwischen antisemitischen Tendenzen bei Linken und der Ideologie eines linken Antisemitismus vorzunehmen. Dass es Antisemitismus unter Linken gibt, ist nicht zu leugnen. Dieser kann strukturell oder offen kommuniziert werden, wobei dann immer eruiert werden muss, inwiefern es diese Linken mit der Umgestaltung des Systems wirklich ernst meinen. Dass Menschen immer Kinder ihrer Zeit und Umstände sind, befreit sie natürlich nicht von Ressentiments, sie geben allerdings eine Erklärung, weshalb beispielsweise Marx und Engels antijudaistisch über Ferdinand Lassalle schrieben. Und dass Ulrike Meinhof mit ihrer Gleichsetzung der israelischen Regierung mit dem deutschen Faschismus eine rein normative Wertung vornahm, die in ihrer Formulierung so nicht zu unterstützen ist, bedarf keiner zusätzlichen Erklärung. Die linke und besonders kommunistische Ideologie, die darauf aus ist, den Menschen von seinen eigenen Ketten zu befreien, um für eine klassenlose Gesellschaft zu kämpfen, hat im Antisemitismus ihren größten Feind. Diese menschenverachtende Ideologie lebt von der Unterdrückung der Menschheit, besonders der Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung. Ein ideologisch geprägter linker Antisemitismus ist hiernach ein Widerspruch in sich, wenngleich es Antisemitismus unter Linken gibt.

Was bleibt ist eine notwendige Aufklärung über den Antisemitismus als Werkzeug der herrschenden Klasse und der bürgerlichen Gesellschaft, die nicht frei davon sein kann. Linke und Kommunist*innen sind dabei in der Pflicht, eine streng materialistische Definition des Antisemitismus heranzuziehen und jede normative Wertung zu vermeiden. Gerade unter Linken ist es dabei unabdingbar, eine konsequente Position zum Antizionismus und Antisemitismus einzunehmen, der die strikte Trennung und Definition bedingt. Die Vermischung hilft dabei nur der herrschenden Klasse und Antisemit*innen, die durch die Gleichsetzung Israels mit jüdischen Menschen in ihrer Ideologie bestätigt werden, wenn die israelische Regierung Menschenrechtsverbrechen begeht. Wichtig ist dabei jedoch auch, dass in der Vergangenheit rechte, rechtsradikale und faschistische Kräfte immer wieder den Schulterschluss mit der rechten israelischen Regierung suchte; ihr Antisemitismus bleibt jedoch bestehen. Die dialektische Wechselbeziehung zwischen rechten Zionist*innen und Antisemit*innen sollte für Linke und Kommunist*innen Warnung genug sein, dass jüdische Menschen erst dann befreit und ohne Gefahren leben können, wenn die Ideologie und das System, das für ihre Unterdrückung verantwortlich ist, endlich überwunden wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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