Wer Antisemit ist, bestimme ich?

Debatte Die Definition des Antisemitismus-Begriffs wird in der aktuellen Debatte besonders im deutschsprachigen Diskurs sehr weit gedehnt. Das ist letztlich problematisch.

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Als Anfang Mai der asymmetrische Konflikt in Israel und den besetzten Gebieten, besonders Ostjerusalem, ausbrach, entflammte abermals im deutschen linken Diskurs eine Auseinandersetzung, wie damit umzugehen ist. Federführend in diesen Debatten ist jedoch keine materialistische Auffassung, sondern eine radikale Verschiebung der Gegensätze, die mit der Frage einhergeht, ob eine Positionierung und Analyse in diesem Konflikt antisemitisch konnotiert ist oder nicht. Dem liegt in der BRD einerseits eine Staatsraison, die sich mit dem israelischen Staat unabdingbar solidarisch kritisch zeigt, und andererseits eine Definition des Antisemitismus zugrunde, die in ihrer Auslegung weit über den Rahmen hinausgeht und hiernach einerseits nicht nur die grundsätzliche Gefahr des Antisemitismus unterminiert, sondern eine Pauschalisierung der Vorwürfe intendiert, die sich besonders im Verständnis des Zionismus, Judentums und des Staates Israels positioniert.

Es ist freilich eine historische und politische Eigenart der BRD und ihrer Vertreter*innen, eine besonders Stellung zum israelischen Staate einzunehmen. Das ist und war nicht nur durch eine moralische Verantwortung zu erklären, sondern hat auch geostrategische und ökonomische Interessen. Dass dem Antisemitismus jegliche Wurzel zur Entfaltung entzogen werden muss, ist Grundkonsens, der gar nicht zur Diskussion stehen darf. Kürzliche Entwicklungen in der BRD entfalten allerdings eine Problematik, die nicht nur die Meinungsäußerungsfreiheit einschränkt, sondern auch eine paternalistische Herangehensweise aufzeigt, die in letzter Konsequenz den Kampf gegen den Antisemitismus einschränkt: die Regierungskoalition bestehend aus Sozialdemokrat*innen und Christdemokrat*innen verabschiedete eine Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, wonach nichtdeutsche Menschen, die wegen einer antisemitischen Straftat auffielen, nicht mehr eingebürgert werden können.

Die Crux, die sich hier jedoch auftut, ist eine Definition des Antisemitismus, die international bereits sehr kritisch aufgefasst wird, da ihre Auslegung sehr weit möglich ist. Die BRD erweiterte die Definition darüber hinaus mit dem Zusatz, dass Israel Ziel solcher Angriffe sein könnte. Angewandt auf die Gesetzesänderung steht nun die Möglichkeit im Raum, dass Kritik an der israelischen Regierung oder des Zionismus eine weitreichende Konsequenz nach sich ziehen kann. Es wird zwar stets erwähnt, dass eine Staatskritik nicht unter den Begriff des Antisemitismus fällt. Allerdings wird dabei stets entkontextualisiert eingegangen und eine semantische Verschiebung regelrecht provoziert, die die Definition des Antisemitismus aushöhlt. Unter Beschuss sind, so auch im aktuellen Bericht des Verfassungschutzes zu lesen, palästinensische Aktivist*innen, die auf die Gewalt durch die israelische Regierung hinweisen. Die teilweise betont antizionistische Einstellung und Position stellt dabei allerdings keine neue Form des Antisemitismus dar, sondern muss davon ausdrücklich abgegrenzt werden.

Auch die BRD ist fleißig dabei, den Antizionismus mit dem Antisemitismus zu vermengen. Eingewoben wird dabei häufig auch noch die Israelkritik, die, wie der Zusatz der Arbeitsdefinition zeigt, mindestens eine hinreichend antisemitische Konnotation haben könnte. Hier wird das Judentum mit dem Zionismus gleichgesetzt, dabei sowohl historische und gesellschaftliche völlig ignorierend, um es im Staat Israel als jüdisches Kollektiv negativistisch zu definieren, um so einerseits der eigenen Staatsraison gerecht zu werden, doch andererseits auch eine rein moralische Verantwortung der eigenen Geschichte zu kolportieren. Der Zionismus ist als politische Bewegung zu verstehen, die als jüdischer Nationalismus im Staat Israel verwirklicht wurde. Daraus lässt sich jedoch keine Gleichsetzung konkludieren, sondern es zeigt lediglich, dass der bürgerliche Staat Israel zionistisch ist. Er hätte auch antizionistisch oder nichtzionistisch sein können. Die Logik, wonach eine jüdische Nation zwingend zionistisch sein muss, ist dem Fehlschluss geschuldet, der den Zionismus mit dem Judentum gleichsetzt. Dass die gewaltige Mehrheit antizionistischer Bewegungen ausdrücklich nicht die Vernichtung des Staates Israel propagieren, sondern die Politik der Regierung anprangern, wird durch die Tatsache, dass eine antizionistische Minderheit sehr wohl antisemitisch ist, nicht delegitimiert.

Der Kampf gegen den Antisemitismus darf nicht unter der normativ-moralischen Losung Gegen jeden Antisemitismus geführt werden, ohne zu definieren, was darunter verstanden wird. Er muss in seiner politischen und historischen Wirkung betrachtet werden, um seine Wurzel zu vernichten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es unabdingbar, sich von der Vereinnahmung Beschreibungen und Interessen zu distanzieren, die unter der postulierten Losung nur entkontextualisiert verstanden werden können. Die Benennung tatsächlicher Sachverhalte darf nicht unter dem Vorschlaghammer des Antisemitismus-Vorwurfes behandelt werden. Hier läuft man viel mehr die Gefahr, unter der Illusion und Bezugnahme eines Philosemitismus den eigentlichen Antisemitismus zu bedienen. Hiernach kumuliert der schonungslose Kampf gegen den Antisemitismus, die Feindschaft gegenüber Jüd*innen, auch in den Kampf gegen die paternalistische Deutung des Juden an sich. Es ist schlechterdings gerade die Staatsraison und ihrer Interpreten und ihrer Vollstrecker*innen, die das Judentum als Kollektiv mit dem Zionismus und dem israelischen Staat vermengt, und nicht ihrer Kritiker*innen. Die Umkehrung des Politischen, so scheint es, kumuliert in der Narration, dass der Antisemitismus nicht mehr als Antisemitismus verstanden wird, sondern als Werkzeug und Instrument, einerseits eigene Interessen zu vertreten, und andererseits von der Wurzel abzulenken: wer Antisemit*in ist, bestimmen sie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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