„In Lütten Klein war der Lockdown anders“

Interview Durch Corona- und Klimakrise entdecken Städter das Land für sich. Steffen Mau erwartet neue Verteilungskonflikte
Ausgabe 33/2020

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall wurde 2019 viel darüber diskutiert, warum die Proteste gegen die Institutionen der Bundesrepublik aus dem Osten kommen. 2020 jedoch formiert sich der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen mindestens ebenso im Westen. Handelt es sich um eine neue Spaltungslogik? Der Soziologe Steffen Mau hat sich u.a. in seinem Buch Lütten Klein über den gleichnamigen Rostocker Stadtteil mit der Post-Wende-Gesellschaft und dem Leben in der Peripherie beschäftigt.

der Freitag: Herr Mau, waren Sie mal wieder in Lütten Klein?

Steffen Mau: Ja, ich war dort und habe tatsächlich viel über Corona diskutiert. Der Lockdown wurde dort anders erlebt als in Berlin.

Wurde er skeptischer gesehen?

Mecklenburg-Vorpommern ist ja recht wenig von dem Virus betroffen. Nicht wenige hatten daher den Eindruck, es handelte sich um einen Corona-Fehlalarm, um eine gesellschaftliche Überreaktion. Sie hegen Zweifel am Eingriff in ihren Alltag. Bei den Älteren allerdings gibt es auch große Sorgen um die Gesundheit.

Gibt es also ein Stadt-Land-Gefälle in der Wahrnehmung der Corona-Maßnahmen?

Das ist sicher so. Einerseits empfinden die Menschen dort, wo das Virus wenig verbreitet ist, die Maßnahmen als überzogen; andererseits muss man auch sehen, dass die Städter vom Lockdown deutlich stärker betroffen sind als Bewohner ländlicher Räume.

Weil sie dort einen Garten haben?

Haben sie ja nicht immer. Auch in Kleinstädten, auf Dörfern leben Menschen in Wohnungen. Aber im sozialen Raum in der Stadt rückt man sich automatisch auf die Pelle, das Leben ist verdichtet. Die Veränderung, die für die Befolgung der Regeln erfolgen muss, ist daher viel einschneidender. Auf dem Land haben die Leute sowieso räumlichen Abstand, sie fahren mit dem Auto, in dem sie voneinander isoliert sind, und müssen nur kurz eine Maske aufziehen, wenn sie mal einkaufen gehen. Die Mobilität ist allgemein geringer, die Zahl der zufälligen Interaktionen ist geringer. In der Stadt muss man die Maske im öffentlichen Leben viel öfter überziehen. Die Stadt ist zwar der Ort der Anonymität, aber auch der Nähezumutung.

Und trotzdem herrscht in der Provinz ein ganz anderes Bild vom Hauptstadtleben: In Berlin würde niemand Maske tragen, alle würden jeden Tag Party machen... woher kommt dieser Großstadthass?

Teils haben die Medien diese Klischees, die Sie benennen, mit produziert: Da wurden als Beispiel für unverantwortliches Verhalten Leute aus Großstädten gezeigt, die zusammen auf einer Decke auf der Wiese saßen. Aber: Vielleicht waren das auch Haushalte? Eine WG, eine Familie? Diese Bilder schüren die Sorge, die Stadtmenschen steckten sich gegenseitig an und könnten dann aufgrund ihrer hohen Mobilität das Virus einschleppen in Regionen, in denen man bislang davor geschützt war.

Nicht so ganz unbegründet.

Richtig. Zum anderen fragen sich die Menschen auf dem Land, wieso sie Maßnahmen mittragen sollen, die eigentlich doch nur in Städten notwendig sind. Das ist aber auch eine Frage von Milieus: In Deutschland verlief die Verbreitung des Virus zunächst gerade nicht über Tönnies-Arbeiter oder Wanderarbeiter, sondern über hochmobile privilegierte Gruppen. Ischgl ist ein Phänomen der oberen Mittelschicht.

Auch da ist etwas dran.

Und doch geht es in diesem Konflikt um mehr: Berlin ist womöglich eine gern genutzte Chiffre für politisches Versagen, aber auch für eine permissive Lebenshaltung. Was auf viele Berliner Gegenden gar nicht zutrifft. Da geht es viel um Klischees. Natürlich gibt es unverantwortliche Partys in Großstädten, vielleicht mehr auf als auf dem Land, weil hier mehr Menschen wohnen. Aber die Animositäten zwischen Stadt- und Landkultur sind nicht neu, sie treten nur verstärkt zum Vorschein.

Ähnliches könnte man über die Reaktionen auf die Demo gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin sagen: Die Demonstrantinnen wurden auf eine Art abgewertet, die voller Klischees gegenüber prekären Klassen war. Da war von Dummheit die Rede, Bildungsferne, selbst die Körperpflege wurde kritisiert.

Dabei handelt es sich bei den Demonstranten gar nicht um ein homogenes Milieu. Es ist eine heterogene Melange aus politisch Verbitterten aller Milieus, Libertären, Skeptikern gegenüber den Maßnahmen, Impfgegnern, aber auch aus Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern, bis hin zu mittelständischen Unternehmern in Existenznöten. Das ist kein stabiles Milieu, das geht quer durch die Gesellschaft. Ich glaube aber nicht, dass da ein dauerhaftes Bündnis oder eine soziale Bewegung entsteht, das ist eher eine temporäre Erregungsgemeinschaft.

Zur Person

Steffen Mau, geboren 1968, wuchs in den 1970er Jahren im Rostocker Neubauviertel auf und ist heute Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft sorgte 2019 für Diskussionen

Ihnen machen diese Proteste also keine Sorge?

Es ist schon ein Protest, der sich in Form einer Staats- und Elitenskepsis verhärten kann. Die Leute werden unversöhnlicher, bewegen sich außerhalb eines kompromissfähigen gesellschaftlichen Miteinanders. Ihre Interessen kann man nicht mehr ohne Weiteres befrieden. Der daraus entstehende „Anti-Duktus“ ist wie ein Haarriss im gesellschaftlichen Fundament, der immer droht, sich auszuweiten.

Sehen wir dort dasselbe Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Strukturen, über das wir schon seit Gründung der AfD sprechen?

Ja, das denke ich schon, auch wenn die Quellen andere sind. Auf der anderen Seite beobachten wir hingegen die Formierung eines neuartigen politischen Staatsbewusstseins mit einem Bedürfnis nach politischer Handlungsfähigkeit, nach Regulierung, nach Daseinsvorsorge. Die Forderung nach dem Infrastrukturstaat, der kollektive Risiken zu bearbeiten vermag, wird stärker betont, bis in die FDP- Klientel hinein. Viele waren vor allem mit Blick ins Ausland positiv angetan, wie besonnen die Politik agiert hat.

Etatismus versus Anti-Establishment.

Genau, aber diese Haltungen verteilen sich quer durch die Milieus: Libertäre können das Establishment ebenso ablehnen wie Kleinbürgerliche, Mittelstandsunternehmer oder Prekäre. Oder einen regulierenden Staat unterstützen.

Handelt es sich hier um eine neue Logik der sozialen Spaltung?

Die Ablehnung der Corona-Maßnahmen halte ich für ein vorübergehendes Phänomen, das nicht zu sozialstrukturellen Verfestigungen führt. Was aber bleiben wird, ist die Distanz zu den Institutionen.

Wie geht es dem kosmopolitischen Milieu in Zeiten von Corona? Es kann nicht mehr reisen, keine Partyfotos mehr auf Instagram posten, insgesamt weniger mit Hedonismus angeben, weil eine Kultur der Scham Einzug hält...

Ich bin skeptisch, ob man diesen Kosmopolitismus-Begriff so stark aufladen sollte. Aber klar: Der Prestigegewinn, den man aus einer Wochenendreise nach Paris oder Venedig gewinnen kann, hat sich deutlich geschmälert – schon seit der Flugscham. Wir sehen ja schon, wie andere Prestigegüter wichtig werden: Der gesunde Lebensstil, regionale Produkte, die Wiederentdeckung des Landlebens, gleichzeitig global vernetzt.

Abstand am Strand nahe Valencia

Foto: Jose Jordan/Getty Images

Aber wenn alle Lateinamerika-Backpacker jetzt an den Brandenburger Badesee pilgern, wird es teurer und voller für diejenigen, die hier seit fünfzig Jahren jeden Sommer verbringen. Kündigen sich hier neue Konflikte an?

Es wird einen Kampf um schöne Flecken und das ungestörte Refugium geben zwischen den urbanen Milieus, die herausströmen, und der Landbevölkerung, die sich steigenden Preisen konfrontiert sieht. Wir sehen das am Phänomen des britischen Cornwall, dessen Häuschen teuer von Londonern gekauft werden. Gleichzeitig wird sich der internationale Reiseverkehr verteuern.

Reisen wird sich ent-demokratisieren?

Die Vermassung und Universalisierung des Fernreisens werden sich vermutlich zurückentwickeln, eine lineare Steigerung wie in den letzten Jahrzehnten scheint jedenfalls kaum denkbar. Internationale Flugreisen würden dann wieder zum Privileg für höher gestellte soziale Gruppen, sie werden sich als Letzte einschränken müssen in der Mobilität.

Hat Sie die Begrenzung der Reisefreiheit im Lockdown eigentlich an die DDR erinnert?

„Grenzen zu, Regale leer – willkommen in der DDR“, das hörte man im Lockdown ja öfter. Aber 1989 war ein deutlich dramatischerer Einschnitt, zumindest für die Ostdeutschen. Die ganzen DDR-Vergleiche, die jetzt mobilisiert werden, halte ich für wenig sinnvoll, ja irreführend.

Dennoch hat sich unter Corona das Alltagsleben von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Das haben Ostdeutsche doch schon einmal erlebt?

Das Spezifikum dieser Coronakrise ist die Offenheit der Situation: Es ist schwer kalkulierbar, wie lange die öffentliche Beschränkung des gesellschaftlichen Lebens aufrecht erhalten werden muss. Zum Ende der DDR sah man ja schnell das Licht am Ende des Tunnels, das ist nunmehr nicht unbedingt so. Diese Unsicherheit bringt Menschen dazu, sich mentale Haltegriffe zu suchen: Vergleiche mit früheren Erfahrungen, Glaubenssätze, Weltinterpretationen. Teils werden auch einzelne Aspekte der sehr komplexen Coronakrise herausgepickt, daran hält man sich dann fest, andere ignoriert man.

Fehlende Ambiguitätstoleranz nennt man das wohl.

Das Phänomen ist bekannt und lässt sich bei einem Teil der demonstrierenden Gegner der Corona-Maßnahmen beobachten. Die Demonstranten sind zuweilen sehr detailliert informiert, aber sehr selektiv in der Wahrnehmung verschiedener Fakten. Dadurch wird Sicherheit wiedererlangt. Das ist typisch für Zeiten extrem schnellen gesellschaftlichen Wandels und großer Komplexität. Da gibt es einen konfirmatorischen Bias – man nimmt nur das wahr, was einen in der eigenen Haltung bestätigt, nicht das, was einen infrage stellt.

Es handelt sich bei den harten Gegnern der Corona-Maßnahmen laut Studien um fünf Prozent der Bevölkerung. Wieso reden wir wieder soviel über diese kleine Minderheit?

Ja, der harte Kern scheint im einstelligen Prozentbereich zu liegen, der Kranz der Skeptiker ist etwas größer. Das Problem ist, dass die Gegner der Corona-Maßnahmen das Gefühl haben, eigentlich eine schweigende Mehrheit zu vertreten. Die Demonstration mit Zehntausenden Personen verstärkt dieses Gefühl: Sie sind nicht allein mit ihrem Frust, es ist eine gesellschaftlich breite Bewegung. Und die überproportionale Berichterstattung über die Demo verstärkt das Phänomen weiter.

Berichten muss man ja schon...

Sicher, man darf diese Proteste nicht unter den Tisch fallen lassen. Aber sie sind vielleicht auch nicht die wichtigste Meldung oder das wichtigste Kommentarthema. Machen Sie die Bewegung nicht größer, als sie ist.

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