Der Tod ist kein Fremder

Interview Der Mediziner Maxim Schneider wünscht sich einen neuen Umgang mit dem Tod
Ausgabe 14/2020
Intensivstation in Rom: In Italien stehen Ärzte schon vor der Entscheidung, wen sie behandeln können und wen nicht
Intensivstation in Rom: In Italien stehen Ärzte schon vor der Entscheidung, wen sie behandeln können und wen nicht

Foto: Ulmer/Imago Images

Er ärgert sich, als deutsche Medien die Bilder von überforderten Medizinern auf italienischen Intensivstationen zu zeigen beginnen: Maxim Schneider (Name geändert) arbeitet derzeit als Assistenzarzt in der Abteilung für Pneumologie und Infektiologie eines Krankenhauses in einer deutschen Großstadt. Das heißt, er behandelt Corona-Patienten.

Deren sechs liegen zum Zeitpunkt dieses Gesprächs auf der Station, ein paar Tage später, Anfang dieser Woche, sind es 22. Maxim Schneider spricht bedacht, hinter der Kamera des Smartphones dreht er seinen Kopf hin und her. Er windet sich. Was Schneider loswerden will, beschäftigt ihn schon lange

der Freitag: Herr Schneider, Sie stören sich an den Fernsehbildern über Corona. Was ist falsch daran, über die Situation auf den Intensivstationen zu berichten?

Maxim Schneider: Nein, es ist richtig, aus der Intensivstation zu berichten. Das passierte vor Corona ja auch – aber mit ganz anderen Bildern! Wenn Patienten gezeigt wurden, dann meist mit verpixelten Gesichtern. Es wurden auch Apparate gezeigt, aber nicht im Einsatz. Und vor allem wurde diese Berichterstattung begleitet von ausführlichen Interviews mit Ärztinnen und dem Pflegepersonal. Sie haben eingeordnet: Was passiert da gerade? Warum ist dieser Mensch so verkabelt? Jetzt sehen wir Bilder von chaotischen Szenen, und der einzige Kommentar ist: Katastrophe.

Aber wenn dort nun mal das Chaos herrscht ...?

Auch in normalen Zeiten gibt es auf der Intensivstation stressige Situationen, kann man ähnliche Bilder konstruieren. Sie werden, aus Gründen, aber nicht im Fernsehen gezeigt. Intensivstationen sind nie leer. Da kämpfen Ärzte und Pflegerinnen um das Leben von Menschen. Immer.

Wie geht es den Corona-Patientinnen auf Ihrer Station?

Sehr unterschiedlich. Manchen geht es gut, anderen nicht so. Manche wurden auf die Intensivstation verlegt. Einige sind wieder gesund zu Hause.

Und wie geht es Ihnen?

Gut. Die Arbeit ist bislang wie immer – nur dass das Anziehen der Schutzkleidung mehr Raum einnimmt. So eine FFP2-Schutzmaske tragen wir sonst eher selten. Und wir spüren die Knappheit. Eigentlich müssten wir die Maske jedes Mal wechseln, wenn wir das Zimmer betreten, das produziert mit der Zeit einen massiven Verbrauch. Das gab es noch nie. Wir haben nun ein System mit personalisierten Masken, die wir mehrfach verwenden müssen.

Fürchten Sie, sich anzustecken?

Natürlich ist das ein Thema unter Kolleginnen, wir bekommen die Ängste mit, die es in der Bevölkerung gibt – in der wir ja auch leben. Aber der Kontakt zu Menschen mit gefährlichen und potenziell ansteckenden Krankheiten ist für mich seit Jahren Alltag, sei es Influenza oder Tuberkulose, die ja auch sehr gefährlich ist. Mir ist noch nie etwas passiert. Bislang.

Halten Sie die Ängste vor Corona für überzogen?

Ich denke, dass vorsichtiger umgegangen werden muss mit dem Thema. Auch in den Medien. Gefilmt wurden in Italien Patienten, denen es offensichtlich sehr schlecht geht. Wer hat diese Menschen eigentlich um ihr Einverständnis gebeten? Auch die Zuschauer müsste man schützen. Die meisten sehen auf diesen Bildern zum ersten Mal im Leben einen Menschen, der nackt im Bett liegt, aus dem Schläuche kommen. Solche Dinge passieren aber auf der Intensivstation. Der Einsatz von Beatmungsgeräten ist dort Normalität. Wer das nicht weiß, empfindet solch eine Berichterstattung vielleicht sogar als traumatisierend. Das kann man nicht einfach in den Nachrichten zeigen, ohne dass wir als Gesellschaft über Intensivmedizin sprechen.

Sprechen wir also über Intensivmedizin. Was sollte man darüber wissen, als Laie?

Eine intensivmedizinische Behandlung ist nichts, was man sich für jemanden wünscht. Es ist eine Situation, in der eine Patientin sich kaum mehr bewegen kann, voller Kabel. Ohne Sedierung ist diese Form der Behandlung nur schwer erträglich. Alles wird abgeleitet, Urin, Kot ... Es ist eine sehr invasive Maßnahme, die oft nicht nur einen Tag dauert, sondern mehrere Tage, manchmal Wochen.

Wenn diese Behandlung ein Leben rettet, wünsche ich sie einem Menschen doch eher als den Tod?

Klar. Es gibt gute Gründe, eine intensivmedizinische Behandlung anzuwenden, sie rettet Leben, sie ermöglicht, sich noch einmal zu verabschieden von den Angehörigen. Aber wir, das Personal, bekommen längerfristig mit, wer auf die Intensivstation verlegt wird. Vielen, so mein Eindruck, wird man mit dieser Form der Therapie wahrscheinlich nicht helfen.

Sondern nur den Sterbeprozess verlängern?

Diese Erfahrung hat zumindest jede Ärztin, jeder Pfleger schon mal gemacht. Und nicht nur einmal. Ist verständlich, was ich meine?

Ich fürchte ja.

Was längst überfällig ist, ist eine Diskussion über die Frage: Was stellen wir uns eigentlich vor am Lebensende? Ich rede jetzt nicht über jemanden, der im vollen Leben steht und plötzlich schwer krank wird. Ich rede von Menschen, die sehr viel älter sind, vielleicht schon multipel vorerkrankt. Ich nehme hier durchaus ein Bedürfnis wahr, in Ruhe gehen zu können, aber es fehlt häufig an Wissen über die Möglichkeiten, die es gibt. Was es heißt, auf der Intensivstation zu sein. Im Krankenhaus fehlen die Zeit und das Personal, darüber zu sprechen. Das hat Auswirkungen auf die Art, wie Menschen behandelt werden – und wie sie sterben.

Zur Person

Maxim Schneider, 32, ist seit fünf Jahren Assistenzarzt. Aktuell arbeitet er in der Abteilung für Lungen- und Infektionskrankheiten und in der Beatmungsstation eines Krankenhauses in einer deutschen Großstadt. Zum Schutz seiner Kolleginnen und Kollegen sowie seiner Patienten wurde sein Name geändert.

Wie sieht so ein Gespräch aus, wenn Sie es führen?

Wenn ich sage, wir machen jetzt Maximalmedizin, wir machen alles, dann dauert das drei Sekunden, da widerspricht keiner, das geht sehr schnell. Sich aber ganz in Ruhe hinzusetzen und zu sagen: „Na, wie fühlten Sie sich in den letzten Monaten, wie geht es Ihnen mit den vergangenen vier, fünf Krankenhausaufenthalten? Wenn es Ihnen schlechter geht, dann tun wir hier auf der Normalstation alles dafür, dass Sie keine Schmerzen haben, Ihre Familie kann Sie hier besuchen, aber was sollen wir tun, sollte es noch schlechter werden? Wie weit sollen wir gehen? Können Sie sich etwa vorstellen, an Maschinen angeschlossen zu werden?“ …

Aber weiterleben will doch jeder!

Natürlich! Man will, dass es einem wieder gut geht! Aber man muss auch fragen: Wollen Sie wochenlang an Maschinen hängen? Sediert? Oder lieber zu Hause sein, im Kreis der Familie? Solch ein Gespräch dauert viel länger, das ist schwierig, das erfordert Ruhe, Empathie und Zeit. Dafür brauchen wir mehr Personal. Und eine gesellschaftliche Debatte. Mit diesen Fragen müssten sich Menschen beschäftigen, bevor der Therapiezug losfährt. Wenn der Notfall eintritt, versucht man, jedes Leben zu retten, das muss auch so sein.

Für solche Fälle gibt es doch Patientenverfügungen, in denen man festhält, welche Maßnahmen man haben möchte, welche nicht.

Das geht in die richtige Richtung, ja. Aber häufig sind solche Verfügungen in ihrer Formulierung nicht deutlich genug, um für das behandelnde Personal rechtliche Sicherheit zu gewährleisten. Zudem haben viele Leute Angst, dass ihnen eine Behandlung vorenthalten werden könnte. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, herauszufinden, was die beste Entscheidung für sie ist. Das ist eine Frage, die man sich auch in Zeiten von Corona zu wenig stellt. Was ist das für ein Sterben, allein auf der Intensivstation?

Wie gehen Sie als Arzt damit um, wenn Ihre Patienten sterben?

Jeder, der einen Gesundheitsberuf ausübt, weiß, wie sich das anfühlt, wenn ein Angehöriger schwer krank ist. Man kann die Situation nicht mehr professionell einschätzen. Die Distanz ist wichtig, um gut zu funktionieren als Arzt. Das ist ein Lernprozess, den ich durchmachen musste, wie alle meine Kolleginnen und Kollegen. Wir setzen uns mit dem Tod auseinander. Die Gesellschaft tut das leider kaum. Krankheit und Tod sind praktisch nicht existent im Alltag der Menschen. Jetzt wirkt es, als würde beides erst durch ein fremdes Virus über uns herfallen. Und das stimmt nicht.

Ist es nicht normal, dass man Angst hat vor dem Virus?

Menschen sterben. Immer. Auch junge Menschen. An Verkehrsunfällen, Infektionen, an Krebs, an schweren Autoimmunerkrankungen. Aber die aktuellen Todeszahlen werden sonst nie im Fernsehen gezeigt. Sondern es wird gar nicht darüber gesprochen.

Wie über die Grippewelle vor zwei Jahren?

Damals gab es wochenlang nicht genug Betten auf der Intensivstation, doch über Todesstatistiken sprach die Öffentlichkeit nicht. Jetzt sind die Menschen plötzlich damit konfrontiert, begleitet von Bildern aus der Intensivmedizin und von LKWs voller Leichen. Diese Bilder treffen auf eine Gesellschaft, die nie über den Tod redet. Die gerade noch mit der Frage beschäftigt war, was für ein Auto ich mir als nächstes kaufe. Wohin ich als Nächstes in den Urlaub fliege.

Immerhin beginnt die Gesellschaft überhaupt, sich mit dem Tod zu beschäftigen.

Ja, vielleicht ist es auch der richtige Moment, um sich Gedanken zu machen. Es handelt sich jedoch um eine sehr angstgetriebene Diskussion, was die Auseinandersetzung mit dem Thema erschwert.

Der Ethikrat begleitet nun die Debatte: Er stellte klar, dass ausschließlich die Überlebensperspektive ausschlaggebend sein darf bei der Entscheidung über eine Behandlung.

Eine sehr wichtige Wortmeldung. In Italien stehen Ärztinnen bereits vor der Entscheidung, wen sie behandeln können und wen nicht. In solch eine Situation möchte man als Arzt eigentlich nie kommen.

Droht hier nicht die Gefahr, dass wir bald über lebenswertes Leben und vernachlässigbares Leben diskutieren?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Die muss jeder für sich beantworten, kein Arzt darf sie für seinen Patienten beantworten, keine Gesellschaft für das Individuum. Mir geht es nur darum: Man muss sich die Perspektive vor Augen führen, dass eine intensivmedizinische Behandlung einen sehr alten, kranken Körper auch nicht wieder gesund machen kann.

Die Debatte dreht sich derzeit jedoch fast nur um Intensivbetten.

Die Zahl der Beatmungsbetten kann aber per se kein guter Indikator sein für ein funktionierendes Gesundheitssystem. Die abschließende epidemiologische Beurteilung der Corona-Krise steht aus. Diese starke Fokussierung auf Intensivkapazitäten und nur eine Infektionserkrankung birgt jedoch das Risiko, dass andere Behandlungen aus dem Fokus geraten.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine Kollegin berichtete mir von einer Nachtschicht: Bei der Übergabe eines Patienten fragte der kommende Arzt, ob er Corona-Verdacht habe, was meine Kollegin verneinte. Da drückte er schon die Klinke und wollte reingehen, ohne Mundschutz und Handschuhe, und sie hielt ihn auf: „Warte! Der Patient hat aber Verdacht auf Tuberkulose, du brauchst trotzdem Schutz!“ Seit einigen Wochen ist zudem zu beobachten, dass die Rettungsstellen leer sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ganzen Leute, die sonst hierherkommen, aktuell nicht krank geworden sind. Die Fokussierung auf eine Erkrankung, die extrem viele Kräfte bindet, muss zu einem Qualitätsverlust an anderer Stelle führen, das ist eine einfache Rechnung.

Sie kritisieren also die Verengung der Gesundheitsdebatte.

Schon lange haben wir einen verengten Blick auf Gesundheit, und derzeit verengt er sich weiter. Es ist nicht abzusehen, was die sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Ausnahmezustands auf die Menschen sind. Existenzangst, Einsamkeit, Armut: alles Faktoren, die die Gesundheit gefährden.

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