Radikal staatstragend

Politik In Thüringen wird sichtbar, wie die Demokratie bröckelt. Dass ausgerechnet ein Linker sie zu retten versucht, ist weniger absurd, als mancher denken mag
Ausgabe 08/2020
Posterboy: Bodo Ramelow
Posterboy: Bodo Ramelow

Foto: Karina Hessland/Imago

Vier Uhr morgens, 7. Februar 2020, Bodo Ramelow liegt „glockenwach“ in seinem Bett. Was geht dem Ex-Ministerpräsidenten Thüringens durch den Kopf? Thomas Kemmerich, Mike Mohring? Die Zukunft der Linkspartei? Seine eigene? Nein, es ist: die Kalilauge. „Mir ging auf einmal die Kalilauge durch den Kopf. An dem Thema Kalilauge hängen in Thüringen viereinhalbtausend Bergleute unter Tage. Das kann ich nicht abstreifen“, erzählt Bodo Ramelow dem MDR im Interview – auf die Frage hin, wie es ihm gehe.

„Erst das Land, dann die Partei, dann die Person“, diesen Satz Bernhard Vogels, einst CDU-Ministerpräsident Thüringens, hat Ramelow seit der Landtagswahl des Öfteren zitiert. Dass er dieses Leitmotiv auch lebt, zeigte Ramelow spätestens, als er für eine CDU-geführte technische Regierung bis zu geordneten Neuwahlen seinen Rückzug anbot. Das sorgte in der Republik für offene Münder: staatspolitische Verantwortung! In Zeiten der Parteienkrisen eine Seltenheit; die Thüringer CDU scheint sie nicht zu kennen. 71 Prozent Zuspruch erhält Ramelow in Umfragen, unter CDU-Wählern sogar 74 Prozent: ein Landesvater.

Bodo Ramelow vereint zu einer Zeit, in der alles zu bröckeln scheint. Aber was bröckelt da eigentlich? Die bürgerliche Mitte? Wer ist das? Und wohin gehört Ramelow? Einiges wurde schon eingewandt gegen die Hufeisen genannte Vorstellung einer „demokratischen Mitte“ mit „rechtem und linkem Rand“. „Weimar ist aus der Mitte des Bürgertums zerrüttet worden“, erinnerte der Liberale Gerhart Baum bei Anne Will. Thüringen zeigt, dass es vielleicht nicht um „die Mitte“ geht, sondern um „die Mitten“, die vielen. Um die Fugen der Gesellschaft.

Nach dem Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich gefragt, sagt Ramelow: „Es kommt nicht darauf an, ob ich ihn mag oder nicht. Es muss einen geordneten Übergang geben. Und da werbe ich auch bei und mit Herrn Kemmerich.“ Ramelow sieht Politik nicht als Gegeneinander, rechts gegen links, konservativ gegen progressiv, ländlich gegen urban, sondern als Miteinander, wenn auch ringend. Dieses Ringen findet nicht zwischen einer Mitte und den Rändern statt, sondern mitten in der Gesellschaft – zwischen den Beteiligten: „Es gibt einen menschlichen Grundkontext, der funktionieren muss.“

Ramelow blickt auf die Fugen einer Gesellschaft, nicht auf die Kacheln. Fugen, die die AfD am 5. Februar aufsprengte, zusammen mit der CDU und mit der FDP.

Rechte Politik zergliedert die Gesellschaft in Gruppen, treibt auseinander, drängt die Schwächeren heraus. Faschisten gehen weiter, sie sprechen den zuvor von der AfD identifizierten und herausgelösten Gruppen ihr Existenzrecht ab und planen rassistische Morde, wie mutmaßlich die jüngst ausgehobene rechtsterroristische „Gruppe S“. Die antifaschistische Antwort auf dieses Sprengen kann sich nicht darin erschöpfen, letzte Dämme zu bauen. Die Grüne Annalena Baerbock verwies darauf: Es war die Zivilgesellschaft, die den Dammbruch von Thüringen flickte. Eine Zivilgesellschaft entsteht nicht einfach. Ein Staat kann sie fördern oder behindern. Antifaschistische Regierungspolitik besteht in Ersterem: Sie stärkt das Gemeinwesen.

Nun wird gerne behauptet, Bodo Ramelow stärke zwar das Gemeinwesen, aber das gelte nicht für seine Partei. Ist das so? Nun, vor dem 5. Februar legte die Linke zusammen mit SPD und Grünen einen Koalitionsvertrag vor. Geplant waren: ein Investitionsprogramm für die Kommunen; mehr Sozialarbeiter an den Schulen; Mobilitätsgarantien auf dem Land; ein drittes beitragsfreies Kita-Jahr. Stärkung des Gemeinwesens. In Berlin setzte die linke Regierung den Mietendeckel durch, als Riegel gegen die soziale Spaltung. Und das radikal wirkende Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnungskonzerne bezieht sich auf nichts anderes als das Grundgesetz: Artikel 15 sieht vor, Privateigentum dann zu enteignen, wenn das dem Wohl der Allgemeinheit dient. Dem Gemeinwesen also. Diesen Artikel hatte 1949 die SPD erkämpft, um die Möglichkeit einer gemeinwohl- statt profitorientierten Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Es ist linke Politik, den Staat zum Schutz des Gemeinwesens zu stärken.

Verteidigen muss die Linke diesen Staat nicht nur gegen Angriffe von rechts, sondern auch gegen die zersetzenden Kräfte des Kapitalismus. Rechte können deshalb so gut in die gesellschaftlichen Fugen eindringen, weil diese jahrelang aufgebröselt wurden – von der Niedriglohn-Erpressung durch Hartz IV; von Banken, deren Cum-Ex-Geschäfte die öffentliche Hand um Milliarden von Steuergeldern brachten. Gesellschaften im Osten traf diese Politik härter. Denn die SED hatte gerade die Herausbildung der so wichtigen Fugen, einer Zivilgesellschaft also, unterdrückt; Treuhand und neoliberale Schocktherapie taten nach 1990 ihr Übriges. Kann denn die Linkspartei ausgerechnet hier etwas kitten, Vertrauen in (Sozial-)Staat und Zivilgesellschaft aufbauen? Vielleicht kann nur sie das. Die Verbindung von Gemeinwohl und: Versöhnung. Von klimapolitischer Wende und: 4.500 Arbeitsplätzen im Kali-Bergbau.

Dem MDR erzählt Bodo Ramelow noch vom Bürgerrechtler Matthias Domaschk, der in Gera 1981 in Stasi-Gefangenschaft starb. „Für mich ist klar“, sagt Ramelow, „er ist umgebracht worden.“ Noch vor fünf Jahren habe Domaschks Witwe gesagt, sie könne ihm nicht glauben, weil sein Parteibuch die SED enthalte. Nach dem 5. Februar schickte sie Ramelow: solidarische Grüße.

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