Am Laternenpfahl vor der Landskronbrauerei hängt diese riesige Kamera. Sie schaut auf die ergrauten Häupter hinab, die unter der Abendsonne in Scharen heranspazieren. Es ist der Donnerstagabend vor der Europawahl – und vor der Wahl des Oberbürgermeisters der östlichsten Stadt Deutschlands: Görlitz in Sachsen. Die Kamera kann nichts erfassen, sie ist nur aufgedruckt auf das Wahlplakat des CDU-Oberbürgermeister-Kandidaten Octavian Ursu. Sein Versprechen: die zwar gesunkene, aber noch immer hohe Kriminalitätsrate in der deutsch-polnischen Grenzstadt mit 56.000 Einwohnern zu bekämpfen.
Zum CDU-Plakat hinauf blickt aber keiner hier. Alle richten den Blick nur nach vorn, in die von der AfD blau geschmückte Halle. 400 Sitzplätze sind längst besetzt, gut 200 weitere Zuschauer stehen eng an den Seiten, ihr Bier in der Hand. Heute spricht hier Jörg Meuthen, der AfD-Spitzenkandidat für das Europaparlament. Und es spricht Sebastian Wippel, Polizeikommissar und AfD-Oberbürgermeister-Kandidat. Dass er drei Tage später als stärkster Kandidat in die zweite Wahlrunde einziehen wird, dessen sind sie sich hier schon am Donnerstag sicher. „Unser Bürgermeister“, sagen sie, skandieren: „Hier regiert die AfD!“
In der Steinstraße in der Altstadt blinkt indes eine echte Überwachungskamera. Sie erfasst Markus Beinert*, 38, weißes Polo-Shirt mit schwarzem Kragen, Kurzhaarschnitt, trainierte Oberarme. Auch die 15 Gäste richten ihre Blicke auf ihn, verstohlen, denn er passt nicht so recht hierher, ins Büro der Wählervereinigung „Bürger für Görlitz“. Sie haben sich mit den Grünen, der SPD und der Bürgerinitiative Motor Görlitz für die Bürgermeisterwahl zusammengeschlossen: Für das Bündnis kandidiert Franziska Schubert, Mitglied des Sächsischen Landtags für Bündnis 90/Die Grünen. Sie hat eingeladen, um über das Klima zu reden – nein, falsch! Denn die 37-Jährige spricht nicht über das Klima, das ist nicht ihre Art, sie spricht über stadtpolitische Maßnahmen zur Klimaanpassung: von der Entsiegelung von Flächen und der Anpassung des Baumbestands, um gegen Hitze und Trockenheit anzuarbeiten. Und sie spricht über den Distel- und Brennnesselwuchs in der Stadt, der Insekten nährt: „Wer Schmetterlinge mag, der muss auch Disteln mögen, sonst gibt’s halt keine Schmetterlinge!“
Vom Kohleausstieg spricht Schubert wiederum nicht, das übernimmt die klimapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, die an diesem Abend nach Görlitz gekommen ist. Auch sie sagt aber nicht „Kohleausstieg“, lieber „K-Wort“, schwieriges Thema hier in der Oberlausitz, dann kommt sie auf die CO₂-Steuer zu sprechen, „die CDU lehnt diese Maßnahmen dann ab aus Angst vor Populismus, es könnte für einige teurer werden, wie auch immer“, das grüne Publikum lächelt, und Markus Beinert mit dem Kurzhaarschnitt in der zweiten Reihe fragt nach, freundlich: „Aber manche sind halt wirklich auf das Auto angewiesen. Meine Frau fährt zur Arbeit nach Zittau, wir haben einen Diesel. Vielleicht sollte man nicht beim Bürger anfangen mit dem Klimaschutz, sondern bei der Wirtschaft?“
Die Grüne oder den AfD-Mann?
Später werden die Grünen sich über Beinert unterhalten und fragen: „War der von der AfD geschickt?“ Nein, Markus Beinert schickt sich selbst. Er hatte die Grünen-Veranstaltungen bisher verpasst, auch die große am Wochenende zuvor, die, von der hier alle reden, wobei sie verzückt die Augen gen Himmel richten – „Die mit dem Robert!“ –, als Habeck in Görlitz war. Der Justizvollzugsbeamte Markus Beinert möchte sich nun auch Franziska Schubert noch anschauen vor der Wahl, denn ihm liegt Görlitz am Herzen. „Die Stadt muss sich entwickeln“, sagt er, und Sebastian Wippel von der AfD habe ihn nicht so richtig überzeugt, „der hat kein richtiges Konzept“. Nun will er sehen, ob „die Franzi“ eins hat, und dann will er entscheiden, wen er wählt: die Grüne oder den AfD-Mann.
„Vieles bewegt sich wieder aufeinander zu“, meint Beinert, „nach drei Jahren sehen wir ja, was mit den Flüchtlingen geworden ist: Die AfD hatte nicht ganz unrecht, denn es kamen ja nicht nur Facharbeiter mit Teddy, und die Grünen hatten auch nicht ganz unrecht, denn es war ja nun auch kein Weltuntergang.“
Mit einem „zeitgemäßen“ Wirtschaftskonzept wirbt Schubert, sie will Gründer aus Zukunftsbranchen nach Görlitz holen, die Gesundheitswirtschaft stärken und junges Handwerk fördern. Holen und fördern, das sind auch die Wahlkampfparolen der AfD und der CDU, denn wachsen soll die Stadt, da sind sich alle einig: Nach der Wende verlor Görlitz ein Drittel der 78.000 Bewohner, erst seit 2006 gibt es wieder mehr Zu- als Abwanderer, langsam. Wer aber soll zuwandern? Als die Sächsische Zeitung alle Kandidaten fragt, ob „Brexit-Polen“ als Facharbeiter nach Görlitz geholt werden sollen, sagt Franziska Schubert „Ja“, Sebastian Wippel „Nein“ – er setzt auf Görlitz-Rückkehrer, denn auch er hat in Niedersachsen Verwaltungswissenschaften studiert und kam als Polizeikommissar zurück.
Ganz ähnlich Schubert, sie hat ebenfalls in Niedersachsen studiert, Europäische Wirtschafts- und Sozialgeografie. Man sage ihr oft, die Grünen könnten nicht mit Finanzen umgehen, erzählt sie vor ihrem Glas Wein beim Italiener, die Klima-Veranstaltung ist gerade vorbei. „Ich habe gesagt: Weiß nicht, was die Grünen können oder nicht können, aber ich, Franziska Schubert, ich kann mit Finanzen umgehen.“ So macht die Franzi Wahlkampf, sagen die Grünen hier: nicht grün, jedenfalls nicht so, wie man sich Grüne vorstellt, „ich rede mit allen“, sagt sie, „mit der Feuerwehr, mit den Unternehmern“. Ihre Wahlkampfmanagerin rollt mit den Augen: „Oh ja, stundenlang, wenn es sein muss!“ Schubert lacht: „Ich passe eben nicht ins Bild!“, sagt sie und zieht ihre Augenbraue hoch, ihre feine, rötliche Augenbraue, sodass ihr Auge ganz klar und grün wird, und sie zählt energisch auf, an ihren Fingern, drei werden es: „Fleischerstochter! Katholisch getauft! Finanzexpertin!“
Die Grünen jedenfalls sind seit ihrer Kandidatur in Görlitz gewachsen, verdoppelt habe sich der Stadtverband, der jahrelang aus den gleichen Bündnis-90-Bürgerrechtsaktivisten bestand, seit der Wende. All die jungen Frauen seien jetzt erst dazugekommen. Mit der „Franzi“. Dass die Franzi nicht alle toll finden in Görlitz, das zeigt sich am nächsten Tag.
„Der Flyer lag am Morgen einfach so da“, sagt Nancy Scholz und legt ihn quer über die Türschwelle ihres Cafés, des Cafés Herzstück in der Weberstraße, 2015 hat sie es gegründet. „So lag er hier, und wir wissen nicht, wo er herkommt!“ Auf der Vorderseite eine grüne Giftflasche, darauf das Gesicht Franziska Schuberts. Der „Flaschenflyer“ wird er genannt, am Wochenende vor der Wahl reden in der Görlitzer Innenstadt alle davon. Alle, das sind die Angestellten im Café Herzstück, die hier vegane und glutenfreie Kuchen für eine stetig wachsende ernährungsbewusste Kundschaft backen. Alle, das sind auch die selbstständigen Architektinnen, Fotografen und Wissenschaftlerinnen, die im 2016 gegründeten ersten Coworking-Space in Görlitz arbeiten, dem „Kolabor“. „Die Nancy soll auch einen im Briefkasten gehabt haben!“, erzählt man sich dort, und auch Danilo Kuscher, der das verlassene Kühlhaus im Süden von Görlitz seit 2008 zum kulturellen Zentrum gemacht hat, redet über den Flyer. BMX-Rad kann man hier fahren, zu Techno tanzen, bald sollen Künstler und Selbstständige einziehen, Kuscher und seine Leute bauen Maisonette-Ateliers aus.
Sie alle werden auf den „Flaschenflyern“ mit Franziska Schubert in Bezug gesetzt, dünne Linien zeichnen ein großes Netzwerk mit all den Initiativen, die sich in den vergangenen Jahren in Görlitz gegründet haben. Das Kühlhaus und das Kolabor werden verbunden mit den Grünen und den Bürgern für Görlitz; alle Linien laufen zusammen bei Schubert, die inmitten einer Sonnenblume aus dem Flyer lacht. Die Parteien und Wählerbündnisse füllen die giftgrüne Flasche, zusammengesetzt aus „kleinkariertem Größenwahn“, „staatlich alimentierter Kreativwirtschaft“ und „ideologischem Bodensatz“. „Achtung: Kann Spuren von Karrieregeilheit enthalten“ steht darunter. Ein Impressum fehlt.
Heimspiel in Sachsen
Bei der AfD in der Landskronbrauerei wird am Abend, bevor der Flyer auftaucht, noch gelacht über die grüne Stadtentwicklung jener, „die im Stuhlkreis sitzen und stricken“, über „Frankfurt am Main oder Berlin-Kreuzberg“, über „linke Trullas“. Gute Stimmung – da strahlt Sebastian Wippel, dem seine Kollegen aus Landtag und Bundestag immer wieder auf die Schulter klopfen, auch Jörg Meuthen freut sich: „Ein Heimspiel“ sei das immer wieder in Sachsen.
„Ein Heimspiel!“, schnauft am Wahlabend eine Gruppe junger Frauen, die die Grünen im Wahlkampf unterstützt haben, empört. Sie haben sich im Café Kugel versammelt, das nicht auf dem „Flaschenflyer“ steht, obwohl es da eigentlich hingehört, denn im Kugel sind an diesem Sonntagabend wirklich alle versammelt: die Grünen, die Leute von den Wählervereinigungen Motor Görlitz und Bürger für Görlitz, die SPD, die angereisten Journalistinnen, sie alle reden über das Video von der AfD-Veranstaltung in der Brauerei und quetschen jene wenigen aus, die sich dorthin getraut haben: „Wie war denn die Stimmung?“
Je später der Abend, desto offener stehen die Münder, an der Wand läuft der Newsticker der Sächsischen Zeitung: Wippel führt, CDU-Mann Ursu und Franziska Schubert kämpfen um Platz zwei. 36,4 Prozent werden es, über ein Drittel der Stadt hat den AfD-Kandidaten gewählt. Allen im Biergarten des Cafés Kugel wird klar, dass sie also gar nicht alle sind, sondern eben nur dieses knappe Drittel, diese 27,9 Prozent, die Schubert gewählt haben.
Sie ist damit nur Dritte geworden, hinter Ursu mit 30,3 Prozent, jetzt muss sie für die Nachwahl am 16. Juni überlegen, zugunsten von Ursu nicht zu kandidieren, um den AfD-Bürgermeister zu verhindern. Was die Leute im Kugel sehr ärgert. Hätte die Linkspartei keine eigene Kandidatin aufgestellt, vielleicht wären dann deren 5,5 Prozent auf Schubert entfallen und sie wäre jetzt Zweite. Hätte aber die CDU zugunsten einer Grünen verzichtet? „Es ist jetzt keine Zeit für Eitelkeiten!“, sagt Schubert einer Journalistin, sie schreit es fast, das erste Mal, dass sie nicht gute Stimmung verbreitet, nicht lacht und auffordert, keine langen Gesichter zu ziehen, ein bisschen Musik zu machen, sie schreit wohl sich selbst an. „Es ist jetzt keine Zeit für Eitelkeiten!“ Blickt dann konzentriert auf den Tisch, fasst sich, „ich bin angetreten, um die AfD zu verhindern, und diesen Weg gehen wir jetzt weiter“.
Während Nancy Scholz aus dem Café Herzstück und Danilo Kuscher aus dem Kühlhaus sich fragen, „wer denn noch kommt zum Arbeiten und zum Studieren in eine blau regierten Stadt“, während viele hier von Freunden „aus dem Westen“ per WhatsApp gefragt werden, ob sie jetzt nicht doch wegziehen, trinkt die AfD in der Altstadtkneipe Freibier. Feiert nur 200 Meter entfernt vom Café Kugel ihren Wahlsieg, 36,4 Prozent für Wippel und 25,3 Prozent in Sachsen bei der Europawahl.
Markus Beinerts Stimme aber hat Sebastian Wippel nicht bekommen. „Ich habe Franziska Schubert gewählt“, sagt der Mann mit dem Kurzhaarschnitt, „auch wenn meine Familie die Hände über dem Kopf zusammenschlug“, viele hätten eben zu kämpfen „mit dem Kulturellen“. Es sei ja völlig o. k., dass es in Berlin-Kreuzberg alles gebe, multikulturell, aber wer das wolle, könne nach Berlin ziehen, in Görlitz solle man sich über die Kultur nicht beschweren. „Das ist wie über einer Kneipe“, lacht er, „ziehst drüber und sagst dann, es muss leiser werden, das geht nicht, denn: Wer war zuerst da?“
Markus Beinert hat bei der Görlitzer Oberbürgermeisterwahl die Grüne Franziska Schubert gewählt. Und bei der Europawahl: die AfD.
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